Geographieunterricht nach Fukushima

Klaus Rohrbach, Wolfgang Debus (Wendelstein), Klaus Weißinger, Hans-Ulrich Schmu

Nach Tschernobyl hieß es: »Bei uns kann das nicht passieren!« Westliche Kernkraftwerke seien mit den maroden östlichen nicht vergleichbar, ein vergleichbarer Unfall sei ausgeschlossen. Doch den Beinahe-GAU 1979 in Harrisburg USA hatte man ausgeblendet. Windscale, ein schwerer Atomunfall 1957 in England im heutigen Sellafield, war erfolgreich vertuscht worden. Der ungebremste Energiehunger der Industrie führte in den letzten Jahren in zahlreichen Ländern zu einer Renaissance der Atomenergie. Deutschland ging bis vor einigen Monaten einen anderen Weg: den des kontrollierten, zeitlich festgelegten Atomausstiegs. Durch den letzten Regierungswechsel wurde dieser Ausstieg allerdings zugunsten der Atomlobby wieder zeitlich verschoben.

Und nun geschieht eine in ihren Folgen noch nicht abschätzbare atomare Katastrophe in einem hoch technisierten Land. Interessant ist, dass besonders Deutschland umgehend reagiert. Durch Bürgerproteste und  wahltaktische Überlegungen der Regierung scheint eine Energiewende viel schneller als bisher geplant zustande zu kommen. Vielleicht als Vorbild für Europa? 

Ein Ereignis von globaler Bedeutung 

Besonders der Geographieunterricht in der Oberstufenzeit nimmt die komplexen Zusammenhänge der gesamten Erde in den Blick. Hier muss Fukushima neue Akzente setzen. Die Erde als sensibler dynamischer Organismus (Thema in der 10. Klasse) mit den nicht voraussagbaren Erdbeben- und Vulkanausbrüchen (Thema der 9. Klasse) reagiert auf die Tätigkeit des Menschen global (Thema der 12.Klasse). Tschernobyl kontaminierte Teile Russlands und Europas, wirkte in erster Linie also regional. Fukushima betrifft jedoch nicht nur Japan, sondern über die Einleitung radioaktiv verseuchten Wassers in den Pazifik möglicherweise die Ozeane global. Alte Fragen brechen auf: Noch gibt es keine Lösung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle. Die vielen negativen Langzeitwirkungen erhöhter Strahlung auf Natur und Mensch sind seit Hiroshima und Nagasaki, das heißt, seit mindestens sechzig Jahren bekannt. Welche Aufgabe haben wir dabei hinsichtlich einer sachgemäßen und verantwortlichen Urteilsbildung? Wie müsste eine zukunfts­fähige Energiewende aussehen?

Methodisch erfordert dies zunächst eine altersgemäße Betrachtung, die erst einmal vor allem Fragen formuliert und das eigene Denken schult. Diese Fragestellungen haben das Ziel, die weltweiten Verflechtungen der Ereignisse aufzuzeigen, ohne zu früh ein Urteil zu bilden. Mitunter dauert es Jahre bis Jahrzehnte, bis die Zusammenhänge in ihrer Tragweite erkannt und miteinander in Beziehung gebracht werden können, wie sich an den Forschungen über Windscale oder Tschernobyl zeigen lässt. 

Wie reagieren die Ozeane? 

Kontaminierte die Explosion von Tschernobyl damals kurzfristig die Atmosphäre, so handelt es sich diesmal um eine über Monate andauernde Verseuchung des Meeres. Noch unklar ist, wie sich die Radioaktivität in unterschiedlichen Schichten des Ozeans verteilen wird oder inwieweit diese unstabilen Isotope sedimentiert werden. Ozeanische Strömungsprozesse sind gegenüber der atmosphärischen Dynamik vergleichsweise träge, führen aber zu einer umfassenden weltweiten Verbreitung.

Zudem stellt sich die Frage, wie die Organismen der Meere mit der zusätzlichen Belastung durch Radioaktivität umgehen werden. Insbesondere das Plankton reagiert empfindlich auf Veränderungen. Der Stoffumsatz geschieht hier mit einer hohen Geschwindigkeit. Von Bedeutung sind diese Mikroorganismen einerseits für den globalen Kohlenstoffhaushalt. Insofern können die Ereignisse in Fukushima mit dem Klimawandel verknüpft sein. Andererseits ist Plankton die Grundlage der ozeanischen Nahrungskette, in der sich die Konzentrationen an Radionukliden mit zunehmender Größe der Organismen (Muscheln, Krebse, Fische) stetig anreichern. Über fischfressende Landtiere oder Vögel verbreiten sich anschließend die radioaktiven Substanzen auch in den Nahrungsbeziehungen der Kontinente. Forschungen im Zusammenhang mit dem Reaktorunglück in Sellafield haben ergeben, dass ein erheblicher Anteil der Elemente über die Gischt der Küstenbrandung an Land gelangt (seaspray). Durch die Kontamination von Futterarealen in Küstengebieten wird so für eine Anreicherung von Nukliden in Tieren gesorgt.

Hinsichtlich der Ausbreitung der Radioaktivität in der Atmosphäre zeigte sich in den ersten Tagen nach dem Tsunami eine sehr kurzatmige Berichterstattung: War in den ersten Frühlingsmonaten Nordwestwind aus dem asiatischen Kontinent vorherrschend, trieb dieser die radioaktive Wolke auf das offene Meer hinaus und kontaminierte die Gewässer. Wer die sommerlichen monsunalen Windverhältnisse in Japan kennt, weiß, dass sich in den Sommermonaten ein Südostmonsun einstellt, der die weiter austretende Radioaktivität über den Großraum Tokyo bis auf den asiatischen Kontinent tragen wird. Vorausschauendes Denken an bekannten Phänomenen ergibt somit ein ganz anderes Bild und lässt eine tagesbezogene Berichterstattung über das Unglück unsinnig werden.

Eine ganz andere Ebene, die zukünftige Forschung noch aufzuarbeiten hat, ist die Frage nach der qualitativen Veränderung von Wasser durch Radioaktivität. Zahlreiche Forschungen wie beispielsweise die Tropfenmethode von Prof. Kröplin zeigen, dass Wasser auch Informationsträger ist und unter verschiedenen Einflüssen seine Qualität verändert. Welche Auswirkungen Radioaktivität auf das Wasser hat und wie dieses Wasser vor diesem Hintergrund Lebensprozesse beeinflusst, ist noch kaum erforscht. 

Wirtschaftliche Folgen 

Beeindruckend für die Schüler ist ein Vergleich, durch den die eigene Zivilisation mit Abstand betrachtet werden kann: Radioaktive Substanzen haben eine Abbauzeit von über 250.000 Jahren. Sämtlicher Atommüll, der sich wegen des ungelösten Endlagerproblems in Zwischenlagern befindet, wird also noch viele Generationen beschäftigen. Hätte eine babylonische Kultur vor 4000 Jahren etwas hinterlassen, das bis heute massive Gefahren für die Bewohnbarkeit der Erde und zudem erhebliche Kosten verursachen würde, es würde unseren Blick auf eine solche Kultur sicherlich negativ prägen. Die jetzige Menschheit wird nachfolgenden Kulturen eine schwere Hypothek übergeben.

Betrachtet man unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Auswirkungen der beiden Naturkatastrophen, die Anfang März Japan getroffen und Fukushima ausgelöst haben, sind die entstandenen Schäden gigantisch – von der Regierung werden sie auf bis zu 300 Milliarden Dollar beziffert.

Die japanische Regierung muss nun enorme Geldmengen zum Wiederaufbau aufbringen. Gesamtwirtschaftlich problematisch ist, dass Japan innerhalb der letzten Jahre seine Staatsschulden bereits verdoppelt hat.

In diese ganzen wirtschaftlichen Überlegungen ist allerdings das Problem der radioaktiven Verseuchung durch Fukushima bis jetzt nicht einkalkuliert. In den zukünftigen Sperrzonen um Fukushima wird jedoch ein Aufbau für einen langen Zeitraum nicht mehr möglich sein.

Für einen 11.- oder 12.-Klässler ist es wichtig, dass man im Geographieunterricht auf solche wirtschaftlichen Gesichtspunkte eingeht. Es entstehen bedeutsame Fragen: Kann ein hochindustrialisiertes Land wie Japan wirtschaftlich durch Misswirtschaft oder Unglücke in Schieflage kommen? Wenn ja, welche Folgen hätte dies für die Weltwirtschaft? Muss man in einer globalisierten Welt nach der Finanzkrise nicht nur allen möglichen Banken, sondern künftig immer mehr ganzen Staaten unter die Arme greifen? Ist das solidarisch oder egoistisch in dem Sinne, dass man selbst nicht mit in den Strudel gerissen wird? Wer stellt in der krisengeschüttelten weltweiten Finanzwirtschaft die richtigen Fragen und wo gibt es die richtigen Antworten?

Geographieunterricht bekommt für die Schüler nicht nur eine erweiterte Bedeutung, auch die Anforderungen an die Geographielehrer werden steigen.