Geschichtsstunde

Ute Hallaschka

Diese Frage stellt sich öfter, als man denkt. In den Vorträgen Rudolf Steiners wimmelt es von konkreten Bezügen und Anspielungen auf damalige Zeitgeschehnisse. Nicht nur, weil er selbst ein wacher Zeitgenosse war, sondern auch, weil er seine Zuhörer an konkreten Vorgängen des damaligen – auch politischen – Zeitgeschehens teilnehmen lassen wollte. Doch der heutige Leser muss sich fragen: Was sagt mir das jetzt? Sich geisteswissenschaftlich in historische Bezüge zu vertiefen, gut und schön – andererseits gibt es genug Unverständliches in der aktuellen Weltlage. Man kann sich also leicht überfordert fühlen innerhalb der Grenzen seiner eigenen Bewusstseinskapazität, zu viel Information – abgewehrt mit der Empfindung: Das brauch ich jetzt nicht auch noch …

So erging es mir kürzlich. Ich fand beim Aufräumen drei äußerst interessante Vorträge Rudolf Steiners zum Thema »Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen«, die er im Mai und Juni 1919 in Stuttgart gehalten hat. Darin finden sich überraschende pädagogische Aspekte in einer speziellen Beleuchtung und ich mache wieder einmal die Erfahrung: So habe ich das noch nie gesehen oder gehört. Doch dann kommt die Sache mit der Bagdadbahn. Mitten in meinem genüsslichen Erkenntnisvorgang fliege ich aus der Kurve. Es geht um einen Bahnbau, ein Großprojekt, hinten weit in der Türkei, 1898 zwischen Kaiser Wilhelm ll. und Sultan Abdülhamid ll. vereinbart. Gewiss wichtig, Kontext ist der Erste Weltkrieg, aber für mich nichts als eine Ablenkung. Und so ließ ich mich provozieren zur inneren Anmerkung: Als wäre es nicht schon schwer genug, den anspruchsvollen Gedankengängen zu folgen und jetzt auch noch diese blöde Bahn! Kein Mensch hat je davon gehört und überhaupt, was gehen mich Kaiser Wilhelm und der Sultan an … am besten ignorieren.

Können diese zeitlich entlegenen Beispiele dem aktuellen und womöglich nicht anthroposophischen Leser zu irgendetwas dienlich sein? Dann schlage ich das Nachrichtenmagazin Der SPIEGEL (37/18) auf und lese: »Freie Bahn für Erdogan« und sehe das abgedruckte Foto: die Bagdadbahn um 1910! Und das Thema ist ernst genug: Im Zusammenhang von Politik und Wirtschaft und den Illusionen von Krieg und Frieden, weist der Artikel Passagen auf, die den Formulierungen Steiners aufs Wort gleichen, der in seinem Vortrag vom zugrunde gegangenen Impuls für ein »wirtschaftsfreies Staatsleben« spricht. Für die Bahn wurden damals armenische Zwangsarbeiter eingesetzt, die sie schließlich selbst in den Genozid transportierte. Heute will Deutschland 35 Milliarden Euro in den Wiederaufbau des türkischen Schienennetzes investieren. Der Wirtschaftsminister reiste nicht ohne Wirtschaftsleute im Gepäck. Geld beugt Menschenwürde. – Topaktuell!