Heilpädagogik für alle!

Ute Hallaschka

Man könnte die Entwicklung der Waldorfpädagogik in Deutschland zeitlich dreigliedern. Auf die Gründungs- und Neubeginnphase nach dem Zweiten Weltkrieg, die man bis in die 60er Jahre datieren könnte, folgte die bekannte alternative Aufbruchsbewegung, die den Schulen ein unglaubliches Größenwachstum und eine Etablierung ermöglichte. Aktuell leben wir in einer reinen Leistungsgesellschaft und damit stellen sich ganz neue Fragen der Fürsorglichkeit.

Was wird aus den Schwachen, den Unansprechbaren, den Nervösen, den Zappelnden und Tobenden – was wird aus all den Kindern, deren Störung sie als Störenfriede erscheinen lässt? Zunehmend zeigen sich krankmachende Phänomene unserer allgemeinen Lebensumstände in der Biographie der Kinder. Aber es ist nicht ihre Krankheit, wir alle sind verantwortlich für das System, in dem wir leben. Wir tun alle alles dafür, bloß keine Versager, sondern Leistungsträger zu erziehen. Und wenn nun diese »Störenfriede« leibhaftige Symptome eines kulturellen Missstandes wären?

Und wenn es so wäre – wieder im besten Sinne des Wortes –, dass alle Pädagogik tatsächlich als Heilpädagogik gesehen werden kann und muss? Nicht als Spezialdisziplin für Fachleute, sondern als Arbeitsgrundlage ganz gewöhnlicher Pädagogen. Ist es eine verwegene Idee, der Waldorfpädagogik eine neue Stufe in veränderter Zeitenlage zuzutrauen, so dass sie Heilung ermöglicht?

Wie viel Blödsinn darf ich den Klugen zumuten?

Ganz sicher kann das Problem der vielfältigen Störungen nicht rechnerisch gelöst werden – nach dem Motto: Wie viel Katastrophe verträgt die Klasse im Durchschnitt? Ebenso wenig mit der Qualitätssicherung aus dem Leistungskatalog: Wie viel Blödsinn darf ich den Klugen zumuten, damit ihr Erfolg nicht geschmälert wird? Was tun, wenn die Störung nicht abzustellen ist? Nur noch gesunde Kinder aufnehmen? Dann ist der Menschenpark nicht weit …

Wie wäre es mit neuen Begriffen, die auf ätherischer Ebene spielen? Womit früher meist nur die Eurythmie-Unterrichtenden konfrontiert waren, das zeigt sich jetzt als Realität in allen Fächern: Die Entgleisung der Lebenskräfte, ihre Disharmonie als gleichzeitige Fesselung und Explosion im ganz gewöhnlichen Alltag, dies macht die Kinder zu Kranken. Sie sind alle mehr oder weniger seelenpflegebedürftig. Solche Pflege für jeden einzelnen zu leisten, ist aber schlichtweg unmöglich. Auch dazu brauchen wir neue Zeit-Raum-Begriffe des Pädagogischen. Kann ich einem einzelnen auch so gerecht werden, dass ich mich in seinem Namen um einen anderen kümmern kann? Innerlich, meditativ ein Kind anzuschauen, das weniger Hilfe braucht, um so eine Art gemeinsames Opfer von Zeit und Kraft für den Hilfsbedürftigen ins Werk setzen. – Wie sollen Kinder Mitgefühl lernen, wenn nicht ganz konkret in der Teilhabe am Schicksal des anderen? All das spielt sich zwischen Ertrag im Sinne des Fruchtbaren und des Ertragens – im Sinne der Toleranz, denn das bedeutet letzteres wörtlich.

Was ist denn ein tragfähiges Verhältnis zwischen Menschen? Wenn es nun einfach Realität wäre, dass alles scheinbar Unerträgliche mitgenommen sein will? Nicht hingenommen in Gleichgültigkeit, aber geduldet in liebevoller Fürsorglichkeit? Wenn ein Pädagoge vertrauensvoll sich selbst die Kraft zuspricht, mit dem Unerträglichen zu leben, auch wenn es nicht abzustellen ist – aus Liebe Asyl zu geben, diesen Flüchtlingen der Wirklichkeit? Zuzulassen was da zappelt und stört, was nicht genug leistet, was einfach da ist, lebt als ein Mensch, der nicht vertrieben werden will, auch wenn er nicht der Vorstellung entspricht, wie er zu sein hätte.

Konzentriert, aus freiem Willen, positiv, unbefangen und gelassen, mit Liebe und Gleichmut im Chaos zu stehen, ohne sich dies als persönliches Versagen anzukreiden, im Gegenteil, es als Stärke aufzufassen – das scheint michaelisch. Und gerade dies könnte es sein, was die Dämonen der Störenfriede zähmt und heilt: der ungebrochene Wille, für sie da zu sein. Was Kinder so lernen könnten, das liegt auf der Hand: Wir müssen niemanden links liegen lassen oder gar aufgeben. Was uns trägt als Mensch, ist die Hilfe, die einer dem andern gewährt – wenn das keine Lektion fürs Leben ist …

Zur Autorin: Ute Hallaschka ist freie Autorin