Lichtbild Frau Ute

Ich habe stundenlang im Netz gesucht, aber außer ein paar dürftigen Informationen zu ihrer Biographie kommt sie lediglich als Ehefrau vor.

Das ist aus mehreren Gründen absurd. Nicht nur weil der Nobelpreisträger ohne sie im Alltag nicht von der Stelle kam – er fuhr kein Auto und schrieb seine Werke mit dem Bleistift, sie tippte ab. Doch nicht nur im Alltag war sie seine Stütze, sondern auch als literarische Mitschöpferin. Kein Wort kam vor Verlegeraugen, das nicht zuvor ihre kritische Prüfung als erste Leserin und Lektorin bestanden hatte. Und wenn sie nicht zufrieden war, dann ging er erneut ans Werk. Von Rainer Maria Rilke stammt die bemerkenswerte Aussage, er könne nur in weiblicher Gemütsverfassung dichten. Das, was in der schöpferischen Tätigkeit getrost weiblich genannt werden kann: die erforderliche Offenheit der Empfänglichkeit, braucht einen starken Gegenpol. Wo Wort Fleisch wird, ist immer ein Schoß im Spiel und diese Geburtlichkeit will gehalten sein. So auch bei Goethe, von dem wir seit Sigrid Damms Publikation wissen, wie unendlich angewiesen er auf Frau Christiane war.

Günther Grass hat in seinem Werk lebenslang mit Geschlechterklischees gespielt. Immer wieder die berühmte Schlüsselszene, sich bei Gefahr unter die Röcke der Frauen zu verkriechen. Goethe wiederum versteckte sich, als die Franzosen kamen, Weimar besetzten und die Soldaten in sein Haus eindrangen, im Nebenzimmer. Christiane rettete beherzt sein Leben. Die Frau als Beschützerin und Fels in der Brandung. Die größte Angst von Günther Grass war: Ute könne vor ihm sterben und ihn verloren zurücklassen.

Frau Ute, wie sie genannt wurde, war tatsächlich eine Edelfrau. Ich habe die beiden einmal gesehen, in den letzten Lebensjahren des Mannes auf dem Stuttgarter Bahnhof. Sie standen ganz allein am Bahnsteig, warteten auf den Zug und niemand belästigte sie. Verwirrt schaute ich hinüber – war es wirklich der weltberühmte Autor und niemand nahm davon Notiz?

Unter den buschigen Brauen und dem Seelöwenschnurrbart kam ein amüsierter Blick zurück. »Ja, ich bin’s«, sagte der, »aber versuch nur dich zu nähern …« Nein, auf die Idee konnte man tatsächlich nicht kommen. Einen Kopf größer als er und um ihn herum, eine Sonne, die so souverän ausstrahlend alles weglächelte, was etwa zudringlich sein wollte. Sie hielt ihm die Welt vom Leib. Günther Grass grinste. So standen sie am Bahnsteig wie auf einer Insel ihrer eigenen Innerlichkeit.

Günther Grass starb 2015, nun ist sie ihm gefolgt. Die Musikerin Ute Grass, geboren 1936 als Ute Grunert, auf der Insel Hiddensee, starb am 24. April 2021 in Berlin, kurz nach ihrem 85. Geburtstag. Am Ende fand ich ein Lichtbild ihres Lebens – ein Liebesgedicht von Günther Grass an seine Frau. Aus: »Fundsachen für Nichtleser«, 1997:

WO UTE HERKOMMT

Sie ist ein Inselkind,
nur übers Wasser oder bei klarer Sicht
als Wunschbild zu erreichen.

Die vom Festland, sagt sie,
verstehen das nicht.