Raub oder Spende? Urteilsnebel um die Organtransplantation

Andreas Zucker

Organspende schon mit 14? 

»Organspende macht Schule«, so startet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzfgA) eine Kampagne, um Neunt- und Zehntklässler zur Organspende aufzumuntern. Mit sechzehn Jahren kann man sich in Deutschland entscheiden, ob man Organspender werden will, mit vierzehn, ob man dies ablehnt. Eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen, in einem Alter, in dem man natürlich ein »Held« sein möchte und sich selbstverständlich mit großer Emotionalität für die Not eines Mitmenschen einzusetzen bereit ist, erscheint äußerst fragwürdig.

Warum sollen wir in diesem jugendlichen Alter für so tiefgreifende Fragen reif sein und andererseits erst ab achtzehn Jahren einen Landtagsabgeordneten wählen dürfen?

Jeder soll sich zu seiner Organspendebereitschaft äußern, mit dem Ziel, dies später auf der e-Card zu speichern. Dafür soll in Schulen aufgeklärt werden, »umfassend«, aber möglichst »pro Organspende«. Darum wirbt das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung Baden-Württemberg im Verbund mit zahlreichen Krankenkassen mit einem »Schülerwettbewerb Organspende«, der mit 1.500 Euro Preisgeld lockt – natürlich geknüpft an eine vorherige Einführung über Organspende. Ist eine solche Marketingstrategie ein Mittel objektiver Aufklärung?

Eine Organverpflanzung ist eine grandiose medizinische Leistung und kann uns mit Dankbarkeit erfüllen – vor allem dann, wenn es sich um uns bekannte oder verwandte Empfänger handelt, die dadurch eine »Lebensverlängerung« geschenkt bekommen. Aber wissen wir wirklich, was dafür im größeren Umfeld alles getan, geopfert und erlitten werden muss?

»Hirntod« als Voraussetzung für Organentnahme

Das Wort »Hirntod« suggeriert den Tod des Spenders. Aber aus toten Spendern können keine brauchbaren Organe entnommen werden. Als 1967 in Südafrika Christiaan Barnard die erste Herztransplantation gelang, wuchs mit verbesserter Operationstechnik der Organbedarf sprunghaft. 1968 wurde deshalb in Harvard (USA) als weltweiter Standard der Hirntod definiert. Die Patienten dürfen keinerlei Reflexe mehr aufweisen. Die Reflexfähigkeit wurde später auf vierzehn Reflexe eingeschränkt, da die vorherige Festlegung die Patienten »zu tot« erscheinen ließ. Die Hirntod-Diagnostik wird von zwei unabhängigen Spezialisten durchgeführt, und erst danach wird der Patient »frei gegeben«. Die Unsicherheit, die dabei besteht, wird nicht vermittelt: mindestens zwei Prozent der Hirntod-Diagnosen sind fehlerhaft. Es gibt Fälle, in denen als sicher hirntot diagnostizierte Patienten die Klinik wieder bei vollem Bewusstsein und umfassender Lebensfähigkeit verlassen. Hirntote Schwangere haben noch über Monate gesunde Kinder ausgetragen. Der ganze Organismus lebt also noch in vollem Umfang und kann nur nicht von unserem wachen Bewusstsein erreicht werden. Im angelsächsischen Sprachraum spricht man etwas despektierlich von »vegetable like«.

Dies ist in der Fachwelt wohl bekannt und birgt viele Konflikte, die von den Operierenden oft kaum ausgehalten werden. Man weiß und spürt genau, dass bei der Organentnahme der Tod wirklich erst eintritt, wenn das warme pulsierende Blut gegen Kühlflüssigkeit ausgetauscht wird. Wegen dieses Dilemmas wird seit Jahren in den USA der Begriff »justified killing« benutzt, den man dem Militär entlehnt hat. »Gerechtfertigtes Töten« eines minderwertigen Lebens zugunsten der Rettung eines anderen Menschen. Nach außen wird in den USA dennoch der Begriff Hirntod kommuniziert, weil mit dem Wort »justified killing« keine Spendenbereitschaft mehr zu erwarten wäre. Ist das umfassende Aufklärung? Wenn auf dem Spenderausweis »wenn ich tot bin …« steht, bejahen wir eine Organentnahme, ohne darüber aufgeklärt zu sein, dass wir möglicherweise nicht tot sein werden – ein verschleierter Konflikt, denn aktive Sterbehilfe ist in der Bundesrepublik Deutschland verboten und strafbar. Doch der Bundestag hinterfragt bei den Transplantationsgesetzen die Hirntod-Diagnostik nicht.

Wenn ich also die Organspende bejahe, sage ich zwangsläufig ja zur aktiven Tötung eines Mitmenschen zum Zwecke der Hilfe an einem Anderen, der weiterleben möchte. Es wird höheres Gut gegen geringeres abgewogen.

Was erlebt ein Patient, wenn ihm bei lebendigem Leib Organe entnommen werden? Sind seine vegetativen Schmerzäußerungen und Abwehrbewegungen wirklich nur, wie suggeriert, Basalreflexe? Wenn ich all die Fragen voll erfasst habe, kann ich erneut zur Organspende ja sagen. Ich muss mir aber auch bewusst machen, dass ich damit den Konflikt noch nicht ausgeräumt habe, der die Ärzte berührt, die seit mehr als 2.000 Jahren nach dem Eid des Hippokrates zu handeln bemüht sind: Jedem Patienten nur zu helfen und nicht zu schaden. Alle diese bei weitem noch nicht erschöpfenden Fragen können wir offensichtlich nicht mehr dem Gesetzgeber überlassen. Es sind Fragen, die wir nur persönlich entscheiden können – ein jeder nach seinem eigenen Gewissen. Um dazu in der Lage zu sein, müssen wir aber umfassend informiert sein.

Selbst wenn viele Bundesbürger auf alle geplanten Aktionen mit ja antworten würden, werden auch in nächster Zukunft nie ausreichend Organe zur Verfügung stehen. Die sogenannten Hirntoten werden mit verbesserter Intensivmedizin eher abnehmen, und die Zahl von 4.000 jährlich in Deutschland ist seit zwanzig Jahren nahezu unverändert. Werden neue Todesdefinitionen notwendig, wie etwa in den USA, wo man nach »non heartbeating donors« sucht (Organspender ohne schlagende Herzen), deren Herz erst zwei Minuten nicht mehr schlägt?

Der Organbedarf wird steigen nicht nur wegen der verbesserten Operationstechniken, sondern auch wegen des erhöhten Bedarfs der bereits Transplantierten, da durch die notwendigen, immens teuren immunsuppressiven Medikamente zum Beispiel die Nieren Schaden erleiden und dann nach einer vorangegangenen Herzoperation ebenfalls erneuert werden müssen. Was wollen wir in Zukunft für eine Medizin? In was wollen wir Kraft und Vermögen investieren? Bei in jeder Hinsicht knapper werdenden Ressourcen sind wir alle gefragt, welche Art von Medizin der Zukunft wir unterstützen wollen.

Eine gänzlich andere Frage ist die Lebendspende. Dabei geben wir eine Niere, einen Teil unserer Leber oder Knochenmark aus voller Bewusstheit und Opferbereitschaft an einen Mitmenschen und beide leben weiter. Das Risiko, mit einer Niere weiter zu leben, trage ich selbst. Im Gegensatz zur Organentnahme bei sogenannten Hirntoten fehlen bei der Lebendspende die Schilderungen der bedrängenden Erlebnisse, sich von etwas Fremden besetzt zu fühlen, denen die Betroffenen oft nur mit Psychopharmaka begegnen können.

Zum Autor: Andreas Zucker ist Allgemeinarzt für Anthroposophische Medizin am Bodensee in Praxisgemeinschaft. Fachgebiete sind Hausgeburtshilfe und Behindertenbetreuung.