In Bewegung

Selbstverwaltung Ja, – aber in welcher Sozialgestalt?

Karl-Dieter Bodack

Im deutschen Rechtssystem bietet sich der Mantel eines Vereins an, der vielfältige individuelle Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Drei reale Beispiele sollen hier diskutiert werden mit der Frage, wie gut sie sich für das Zusammenwirken von Eltern, Mitarbeiter:innen und Lehrpersonen eignen: Welche Struktur dient den Zielsetzungen qualifizierter Pädagogik, der Mitverantwortung der Eltern, – nicht zuletzt aber auch guter Lebenssicherung der Mitarbeiter:innen und möglichst geringer finanzieller Belastung der Eltern? 

Traditionelle Struktur: Eingetragener Verein mit konventioneller Satzung

 

Dort sind die Menschen frei in ihrem Geist,
Zu schaffen, was ihr Innerstes sie heißt.
Dem selbstgegebenen Gesetz fügt jeder sich,
Der Erde Güter teilt man brüderlich ….

Michael Ende, Das Gauklermärchen

Die Mitgliederversammlung als höchstes Organ wählt Vorstände und entlastet sie im Jahresturnus, wenn sie deren Arbeit als qualifiziert beurteilt: Damit übernimmt der Verein, die Gemeinschaft aller, die Folgen und Verbindlichkeiten aus der Arbeit der Vorstände. Die meisten waldorfpädagogischen Einrichtungen arbeiten in diesem Rahmen. Dabei offenbaren sich immer wieder Mängel, vor allem: Die gewählten Vorstände sind Laien in Bezug auf die vielfältigen Gesetze und Vorschriften, sie machen aus Unkenntnis Fehler zu Lasten des Vereins. Die Vorstandsmitglieder arbeiten ehrenamtlich und haben oft ein stark belastendes Berufsleben, sie können zu wenig Zeit für die notwendige Schularbeit aufbringen. Oft bewerben sich Mitglieder aus Geltungsstreben um Vorstandsämter, die dann dazu neigen, andere in ihren Wirkungsmöglichkeiten zu beschränken. Und Eltern nehmen ihre Mitverantwortung nur in der jährlichen Mitgliederversammlung wahr, weitere Engagements erlahmen, weil ja der Vorstand über alles entscheidet.

Aus der Sicht der Anthroposophie muss eine solche Struktur generell Bedenken erwecken (1): Schaffen doch Abstimmungen und Ernennungen von Regierenden Rechtsleben. Dort ist, um die Rechte der Betroffenen zu sichern und Machtmissbrauch zu verhindern, die Dreiteilung der Gewalten notwendig, eine Dreigliederung der Abläufe mit Legislative (Gesetzgebung aus geistiger Erkenntnis und Diskursen mit differierenden Experten), Exekutive (Durchführung mit Fachleuten, die auf ihre Gesetzestreue vereidigt sind) und Judikative (Prüfung der Durchführung mit von der Exekutive unabhängigen Gerichten).

Eine solche Dreiteilung lässt sich in pädagogischen Einrichtungen nur ansatzweise verwirklichen, wenn neben den Vorständen eine ausführende Geschäftsführung und als drittes Glied eine Revision und ein unabhängiges Schiedsgremium eingerichtet werden. Reale Erfahrungen zeigen, dass mit der Entwicklung von Machtausübung und damit auch mit Einschränkungen in der pädagogischen Arbeit und Reduktion der Mitverantwortung der Eltern gerechnet werden muss: Denn Vorstände budgetieren Finanzen und Bauressourcen, stellen Mitarbeiter:innen ein und entlassen sie – wenn auch mit Empfehlungen anderer Organe!

Aktualisierte Vereinsstruktur

Da den gewählten Vorständen pädagogischer Einrichtungen oft die Kompetenzen der vielfältigen rechtlichen Bestimmungen fehlen und dadurch Defizite im Agieren und Fehlentscheidungen vorkommen, haben Berater:innen eine verbesserte Struktur erfunden. Registergerichte haben sie im Rahmen eingetragener Verein akzeptiert, eine Reihe von Schulen praktiziert sie. Die Mitgliederversammlung wählt hier Mitglieder eines Aufsichtsrats, der dann einen Vorstand oder Vorstände anstellt und kontrolliert. Eine der Schulen hat drei Vorstände: Je einen für Pädagogik, für Finanzen und für Personal. Entspricht dieser Aufbau der Dreigliederung des sozialen Organismus, wie sie Rudolf Steiner intendierte? Mit einem Vorstand Pädagogik? Aufsichtsräte und Vorstände gab es bislang nur in der Wirtschaft: Wo Aufsichtsräte konsequent die Renditeinteressen der Eigentümer vertreten, entstehen doch das allseits bekannten Problem, wie die Rechte der Mitarbeiter:innen:innen gewahrt werden!

Damit rücken Schulen und Kindergärten tendenziell in den Bereich Wirtschaft: Die Eltern fordern dann zu Recht hohe Dienstleistungsqualitäten bei möglichst geringen Gebühren, so, wie sie es bei Unternehmen erwarten: Mängel werden beklagt, Besserungen gefordert, Garantieleistungen verlangt! Der dafür verantwortliche Vorstand wird entsprechend agieren und zur eigenen Sicherung Entscheidungen fällen, die die betroffenen Mitarbeiter:innen:innen hinnehmen müssen. In einer so gestalteten Waldorfschule haben die Mitarbeiter:innen konsequent mit Hilfe einer Gewerkschaft einen Betriebsrat gegründet, der ihre Rechte gegenüber dem Vorstand vertritt: Die deutschen Gesetze erlauben das, weil es offensichtlich notwendig erscheint.

Die Hoffnung, damit besser qualifizierte Vorstände zu finden, wird sich nicht leicht erfüllen: Bewährte Führungskräfte finden sich vielfach in der Wirtschaft, sie können mit entsprechend hohen Gehältern ggf. gewonnen werden — im Bereich des Kulturlebens, der komplexen Schulgesetzgebung, in Verhandlungen mit Schulämtern sind sie damit noch nicht kompetent! Gerade dadurch bilden sich Gefahren von Machtausübung, die die Freiheiten der Mitarbeiter:innen reduzieren und unter Umständen förderliche Entwicklungen verhindern. Und das, obwohl im modernen Management in manchen Unternehmen durchaus Teamarbeit zur Förderung von Innovationen neben klassischer Führung gepflegt wird (2).

Sozialgestalt für Geistesleben weckt Initiativen

 

Man wirkt zusammen, hilft sich arbeitsteilig,
Jeder ist dort Künstler auf seine Art.
Das absichtslose Spiel ist ihnen heilig,
weil es des Menschen Freiheit offenbart.
Und keiner macht dem andern angst und bang,
Denn niemand übt dort Macht aus oder Zwang.

Michael Ende, Das Gauklermärchen

Die Waldorfschulen wollte Rudolf Steiner mit Selbstverwaltung in einem Freien Geistesleben verankert sehen. Es basiert auf individueller Erkenntnisarbeit und darauf aufbauenden Initiativkräften der Mitwirkenden. Dafür intendierte er besondere soziale Gestaltungen, die andere als demokratische oder hierarchische Strukturen erhalten sollten.

Aufgrund seiner Intentionen erarbeiteten Eltern einer Münchener Schulinitiative in den 1980er Jahren eine Satzung, die es jedem Mitglied erlaubt, seine Initiative in die Schulentwicklung einzubringen. Dies vor dem damaligen Hintergrund, dass für den Schulaufbau (Grundstückserwerb, Schulgebäude, Finanzierung von zehn Schuljahren ab der  5. Klasse ohne staatliche Zuschüsse) voraussichtlich 25 Millionen DM erforderlich waren, für die keine Geldquellen in Aussicht standen. Der Schulaufbau gelang, weil initiative Mitglieder den Gemeinderat zu einem einstimmigen Beschluss bewegten, der den Grundstückspreis auf 1/10 senkte, andere Mitglieder ein Großunternehmen für die Überlassung eines ersten Schulbaus gewannen, besorgte Eltern die Gewährung staatlicher Zuschüsse erreichten und Bauexperten aus der Elternschaft ein eigenes Unternehmen für den Schulbau gründeten (3).

In der entsprechenden, gerichtlich bestätigten Vereinssatzung gibt es, wie im Gesetz vorgeschrieben, die Mitgliederversammlung und gewählte Vorstände. Weiterhin ist unter anderem festgelegt, dass jedes Mitglied seine Initiative in das Schulgeschehen einbringen kann,  wenn es sich mit mindestens zwei weiteren zu einem Arbeitskreis verbindet, der ein eindeutiges Geschäftsfeld darstellt, das sich nicht mit den Aufgaben anderer Gremien überschneidet, der eine Geschäftsordnung erhält, alle Beschlüsse demgemäß fasst und protokolliert und alle Besprechungen schulöffentlich in der Schule durchführt.

Davon ausgenommen sind definierte Arbeitsfelder, die satzungsgemäßen Organen vorbehalten sind, etwa Lehrerkonferenzen, Vertretung der Schule nach außen, Konfliktlösungen, Schülerrat, ebenso Delegationen wie Aufnahmen der Schüler, Personalangelegenheiten etc.

Die unter diesen Bedingungen gebildeten Arbeitskreise entbinden den Vorstand von den entsprechenden Arbeitsfeldern, real sind dies unter anderem Finanzen, Schulbeiträge der Eltern, Bau, Medienkonzepte, Öffentlichkeitsarbeit, Waldorfpädagogik, Feste ... Das Verzeichnis der Schule weist für 2020/2021 14 Arbeitskreise mit insgesamt 122 Mitgliedern aus (einschließlich Mehrfachmitgliedschaften). Mitglieder des Vorstands nehmen an Sitzungen der Arbeitskreise teil, entscheiden mit und verstehen sich vor allem als Wahrnehmungs- und Koordinierungsorgan. In klassischer Funktion erfüllen sie alle Aufgaben, die kein Arbeitskreis leistet. Diese Struktur mit den daraus entstehenden Prozessen erschließt der Schule vielfältige Kompetenzen der Elternschaft, lädt Eltern ein, sich ins Schulleben verantwortlich einzubringen, schafft ein Klima der Solidarität mit den Mitarbeiter:innen der Schule, verursacht Mitverantwortlichkeit bei Allen, vor allem auch bei den Eltern, reduziert Anspruchshaltungen gegenüber Mitarbeiter:innenn und Vorständen und bewirkt das Verständnis und das Verzeihen der Fehler Anderer.

Diese Verfassung hat sich über fast vierzig Jahre bewährt: Die einzügige Schule im Umkreis Münchens mit 440 Schülern hat im Vergleich zu umliegenden Waldorfschulen mit durchschnittlich 240 Euro/Monat den niedrigsten Schulbeitrag, mit 4250 bis 6600 Euro überdurchschnittliche Gehälter für die Lehrer. Außerdem finanziert sie Praktika in assoziierten Handwerksbetrieben und bietet zusätzlich zu den 795 Wochenstunden des Stundenplans den Lehrern weitere 78 Stunden für Aufgaben der Selbstverwaltung, Fortbildung, UNESCO- und Welt:Klasse-Projekte.

Die Schule finanziert die Teilnahme der Schüler an Welt:Klasse-Projekten und führt internationale Projekte durch, mit fortwährender Anerkennung durch die UNESCO. Über Jahre hinweg erreichen über 90 Prozent der Schüler:innen eines Jahrgangs in der 12. Klasse nach einem Jahr Vorbereitung den Abiturabschluss des Freistaats Bayern.

Das sind sicher nicht die wichtigsten Qualitätsmerkmale einer Waldorfschule: In Anbetracht der Nöte und Defizite vieler Schulen in den genannten Feldern könnten die aufgezählten Daten jedoch Anlass geben, diese spezifische Sozialgestaltung kritisch zu würdigen – denn sie veranlagt im Sinne der «Dreigliederung des sozialen Organismus» Rudolf Steiners eine Schule im «Geistesleben»: Es entsteht aus individuellem Erkenntnisstreben und kommt durch die Initiativen der Erkennenden ins Leben – vorausgesetzt, sie schaffen in christlicher Gesinnung entsprechende Vereinbarungen für gemeinsames Wirken und dann auch für soziales Handeln in ihrem Wirtschaften: Es entsteht dann eine spezifische, im «Geistesleben» fundierte «soziale Dreigliederung». Michael Ende hat diese Schulgründung geschätzt und unterstützt, daher dürfen seine Zeilen aus dem Gauklermärchen hier zu Recht obenan stehen und den Schluss bilden.

Es fragt die Spinne Angramain, der geistige Spiegel Kalophain antwortet:

Ist jenes Reich vollkommen und beständig?
Endgült´ge Ordnung ein für alle Mal?
Vollkommen? Nein es ist lebendig!
Und jene, die dort wohnen, sind’s zumal ...

Anmerkungen:

1. Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, Siebzehn Vorträge in Stuttgart, 1921, GA 192, Dornach, 1992

2. Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, Siebzehn Vorträge in Stuttgart, 1921, GA 192, Dornach, 1992

3. Karl-Dieter Bodack: Ein Leben mit Spuren – als Anthroposoph bei der Deutschen Bahn, Frankfurt, 2022.

Kommentare

Karl-Dieter Bodack,

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