Soziale Dreigliederung – in der Schule?

Karl-Dieter Bodack

Oft wird gefordert, auch die Schulen nach dem Prinzip der sozialen Dreigliederung zu organisieren. Bietet sie tatsächlich reale Chancen für eine qualifizierte Selbstverwaltung, wie sie vor allem die Waldorfschulen praktizieren?

»Soziale Dreigliederung« zielt auf eine ganzheitliche und differenzierte Schulentwicklung, die alle schulischen Akteure in ihren Fähigkeiten fordert und fördert. Sie soll den sozialen Raum dafür bereitstellen, dass die drei Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklicht werden können. Soziale Schieflagen erkennt man sehr schnell daran, dass sich eines dieser Prinzipien auf Kosten eines anderen entwickelt: Die Ausdehnung beispielsweise des Gleichheitsprinzips durch Gesetze, Vereinbarungen und formale Regelungen schränkt die Freiheit und/oder die Brüderlichkeit ein. Und jeder hat wohl schon einmal die spezifischen Gefährdungen dieser Regulative erfahren:

• Freiheit weckt Ideen, schafft Kultur, führt zu Innovationen und »ernährt« das Kultur- und Geistesleben einer Schule. Ihr sachgemäß ist eine hierarchiefreie Gestaltung des Zusammenlebens; auf diesem Feld gibt es keine Denk-Tabus. Gefährdet ist diese Freiheit durch Dogmatismus.

• Gleichheit wird durch Gesetze, Regeln und Vereinbarungen geschaffen; diese können jedoch nur dort durchgesetzt werden, wo jemand die Kompetenz besitzt, sie anzumahnen, ihre Einhaltung einzufordern und Verstöße zu ahnden: Die Rechtssphäre erfordert daher sachgemäße Führung und Hierarchie. Gefährdet ist die Gleichheit durch Machtmissbrauch.

• Brüderlichkeit wird geschaffen, indem ausgleichend von Mensch zu Mensch individuelle Bedürfnisse befriedigt werden. Es ist das soziale Prinzip des Wirtschaftslebens. Gefährdet ist die Brüderlichkeit durch Habgier.

Um Dogmatismus, Machtmissbrauch und Habgier zu begrenzen, bedarf jede Gemeinschaft des Gemeinsinns. Dieser ist in der Rechtssphäre, der »Herz-Mitte«, angesiedelt, die Auswucherungen der beiden anderen Sphären Einhalt gebietet und sie in ein Gleichgewicht bringt. Einüben lässt sich diese dreigliedrige Sozialkultur im Gespräch:

• Im ersten Schritt besprechen die Teilnehmer Fakten und Wahrnehmungen, üben sich also im Wahrnehmen, Erinnern und Denken: Es entsteht in der Runde ein gemeinsames Bild eines Sachverhalts oder eines Geschehens.

• In einem zweiten Schritt erkunden die Teilnehmer ihre individuellen Bezüge zu dem Sachverhalt, schildern ihre Empfindungen und Gefühle und nehmen sich dadurch gegenseitig wahr. Daraus entsteht ein gemeinsames Stimmungsbild.

• Erst in einem dritten Schritt werden mögliche Handlungsalternativen besprochen und gegebenenfalls wird ein Beschluss gefasst.

Doch wie kommen die so geübten Fähigkeiten im großen Ganzen der Schule auf den Boden?

Die Struktur einer Schule muss auf der Gestaltung des »Geisteslebens« fußen. Dazu sollte sich jeder, der dies möchte, mit seinen individuellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen können. Damit persönliche Intentionen nicht zu Einseitigkeiten führen, hat sich die Bildung von Arbeitskreisen bewährt: Eltern und Lehrer, auch ältere Schüler verpflichten sich mit gemeinsamen Intentionen zu einer regelmäßigen Arbeit in Gruppen mit spezifischen Aufgaben.

Damit ein Arbeitskreis zu Ergebnissen und Entschlüssen kommt, muss er sich eine gemeinsame Rechtssphäre schaffen. Bewährt haben sich Satzungselemente, in denen jeder Kreis sein Arbeitsfeld definiert und sich eine Geschäftsordnung gibt, die die Teilnahme, Moderation, Beschlussfassungen, Protokolle und Kommunikationswege regelt. Die Besprechungen in Räumen der Schule sollten prinzipiell offen für alle Schulmitglieder sein. Bei zu wenig Regelungen tendieren die sozialen Abläufe zu Konflikten und Chaos, zu viele Regeln führen zu bürokratischer Erstarrung, die die freie Meinungsäußerung behindert und individuelle Bedürfnislagen ignoriert.

Mit der Frage, was wie umgesetzt werden soll, befindet man sich in der »Wirtschaftssphäre«. Hier kommt es darauf an, wer sich wie engagiert und ob die Schule alle Bedürfnisse der Schüler, Lehrer und Eltern erfüllen kann. Das gelingt umso besser, je mehr Menschen, je mehr Arbeitskreise neben den gewählten Vorständen aus eigener Initiative mitwirken.

Die Satzung einer freien Schule sollte zur Bildung von Arbeitskreisen ausdrücklich ermutigen, und ihnen zugestehen, Aufgaben zu übernehmen, die in klassischen Vereinen in der Regel ausschließlich vom Vorstand wahrgenommen werden. Arbeitskreise sollten regelmäßig und vor allem auch auf der Jahresmitgliederversammlung der Schulgemeinschaft berichten und Rechenschaft ablegen. Der Vorstand sollte keinesfalls als Auftraggeber und Entscheider fungieren, denn die Mitglieder der Arbeitskreise sind keine Untertanen des Vorstands oder Bittsteller, die um gnädige Entscheidung ersuchen.

Einer Einrichtung, die sich dem freien Geistesleben verschrieben hat, wäre eine solche Vorgehensweise unwürdig.

 

Eine Schule (siehe Grafik) ist als kulturelle Einrichtung primär Teil des Geisteslebens eines Landes. Sie spiegelt das Rechtsleben dieses Landes wider, indem sie Satzungen hat und Verträge schließt, die diesem Rechtsleben entsprechen. Sie lebt, drittens, mittelbar auch im Wirtschaftslebens des Landes, da sie Bedürfnisse wahrnimmt und erfüllt: Dies wird in Zuschüssen, Schulbeiträgen und Gehaltszahlungen evident, umfasst aber auch die Vermittlung von Fähigkeiten und Wissen sowie die Betreuung der Schüler.

Lehrerkonferenzen und Schulklassen bilden mit der Pädagogik und Didaktik zunächst die Geistessphäre. Jeder Unterricht basiert jedoch auch auf Stundenplänen, Regeln und Vereinbarungen: Damit entsteht eine Rechtssphäre. Der Zeit- und Materialbedarf und die Vermittlung von Wissen bilden die Wirtschaftssphäre, die den Bedürfnissen der Schüler, Eltern und Lehrer gerecht werden soll.

Geschäftsführung und Verwaltung konstituieren primär die Wirtschaftssphäre der Schule. Aber auch hier gibt es Intentionen, Ideen und Problemlösungen, die zur Geistessphäre gehören und Aktivitäten, die Rechte und Pflichten regeln. Arbeitskreise werden gemäß ihren Aufgaben näher beim einen oder anderen Sektor angesiedelt sein. In jedem Fall gestalten sie, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, alle drei sozialen Bereiche.

Jedes Mitglied der Schulgemeinschaft sollte, wo immer es sich befindet oder mitwirkt, aus allen drei Lebensfeldern im Denken, Fühlen und Wollen so angesprochen und belebt werden, dass es Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erleben und anderen schenken kann. Das beobachtbare Erlahmen und Verschwinden von Arbeitskreisen in manchen Schulen führt angesichts komplexer werdender Aufgaben der Schulführung zur Überlastung ehrenamtlicher Vorstände. Manche Waldorfschulen sehen sich daher zur Anstellung professioneller Verwalter aus der Wirtschaft mit entsprechenden Gehältern veranlasst. Um sie zu finden und zu kontrollieren, wird schließlich ein Aufsichtsrat benötigt, der von den Schulmitgliedern gewählt wird. Diese verabschieden sich damit mehr oder weniger aus der Gestaltung des Schulgeschehens und damit auch von der Selbstverwaltung.

Vorbildhaft ist die Rudolf-Steiner-Schule Gröbenzell: Das Schulverzeichnis weist fünfzehn freie Arbeitskreise und über hundert Namen von Mitwirkenden auf. Die Schule ermöglicht den Eltern, ihre Schulbeiträge frei zu wählen und den Lehrern Gehälter in der Größenordnung der der staatlichen Gymnasien zu zahlen.

Zum Autor: Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack erlernte an der Hibernia-Schule den Beruf des Schlossers, studierte Maschinenbau, Design und sozialwissenschaftliche Fächer; er arbeitete lange Jahre in Stabs- und Führungspositionen der DB und DB AG, berät Unternehmen und Schulen und führt Seminare in verschiedenen Ländern und Einrichtungen durch. Kontakt: kdbodack@icloud.com

Literatur: K.-D. Bodack: Sich selbst entdecken – Andere verstehen – Schritte zu Selbstentwicklung und erfolgreicher Zusammenarbeit, Aachen 2016