Systemisches Konsensieren

Edzard F. Keibel

Ein einfaches, aber typisches Beispiel 

Ein Team von 12 Personen will entscheiden, in welchem Farbton der gemeinsam genutzte Flurbereich der Einrichtung neu gestrichen werden soll. Im Verlauf der Beratung werden folgende Vorschläge gemacht und nach langer Diskussion zur Abstimmung gebracht.

Bei einem Mehrheitswahlrecht fällt die Entscheidung klar zu Gunsten von C aus: Der Flur wird grün gestrichen! Man könnte nun die Entscheidung umsetzen, doch im Team macht sich Unmut breit, denn sieben Personen – also letztlich die Mehrheit – fühlen sich von den fünf anderen überstimmt. Es gibt Sieger und Verlierer. Die Diskussion geht weiter.

In einer nächsten Phase werden einzelne Teilnehmer der Runde versuchen, das eigene Lager zu stärken und das der vermeintlichen Gegner zu schwächen. Mit spitzfindigen Argumenten werden die eigenen oder präferierten Vorschläge und Wünsche verteidigt und die der anderen klein geredet oder sogar angegriffen, was schnell persönlich werden kann.

Der Prozess zieht sich hin. Bei erneuten Abstimmungen verschieben sich möglicherweise die Mehrheitsverhältnisse, aber eine zufriedenstellende Lösung kommt damit auch nicht in Sicht. Eine Entscheidung wird frustriert vertagt, was bedeutet: »Es bleibt wie es ist.«

Wird eine Entscheidung vom Team einfach per Mehrheitsentscheidung »durchgezogen«, weil man das ja einmal so festgelegt oder immer so gemacht hat, könnten die überstimmten Verlierer ein »inneres Konto« für die empfundene Niederlage anlegen. Sie werden eine nächste Entscheidung erschweren, falls auch die wieder zu ihren Ungunsten auszufallen droht. So bilden sich mit der Zeit Grüppchen der Abgehängten und Übersehenen, die frustriert Entscheidungsprozesse aktiv hemmen, blockieren oder sich einfach dem Prozedere entziehen, statt konstruktive Vorschläge einzubringen.

Es ist zu befürchten, dass das langfristig Folgen auf der Beziehungsebene auslöst. Solche Teams verlernen allmählich, einvernehmliche Lösungen zu finden. Stattdessen wächst die Gefahr, dass zunehmend Entscheidungen autoritär durchgezogen werden. In der Not wird manchmal eine alle zufrieden stellende »Wunder«-Lösung von außen erwartet, z.B. von einem Vorgesetzten oder einem externen Berater.

Aber solche Wunder geschehen erfahrungsgemäß selten und führen nicht unbedingt zu einem Konsens.

Wie lässt sich eine derartige Entwicklung vermeiden?

Durch »systemisches Konsensieren«. Bei dieser Methode der Entscheidungsfindung

  • werden für jedes vorhandene Problem beliebig viele, aber mehr als drei Lösungsvorschläge gesammelt mit dem verabredeten Ziel, am Ende einen Konsens zu finden;
  • werden auftretende Widerstände (oder Vorbehalte) gegen einen oder mehrere Vorschläge als Ressourcen und nicht als Blockade oder Veto verstanden;
  • zeichnet sich am Ende die beste Lösung dadurch aus, dass gegen sie die wenigsten Widerstände bestehen;
  • wird größtes Einvernehmen (Konsens) hergestellt.

Wie kann das oben beschriebene Team einen Konsens finden?

In einer Bewertung, in unserem Fall der Farbauswahl (sie ist auch ohne vorherige Mehrheitsabstimmung möglich), schaut das Team auf Widerstände bzw. Vorbehalte gegen jeden einzelnen der vorgebrachten Vorschläge. Diese Widerstände werden von jeder Person durch eine individuelle Bewertung erfragt, auf einer Skala von 10 – totaler Widerstand: »Diesem Vorschlag kann ich auf gar keinen Fall zustimmen« bis 0 – völlige Akzeptanz: »Gegen diesen Vorschlag habe ich überhaupt keinen Widerstand, ich kann ihm voll zustimmen.« Alle Wertungen dazwischen werden nach persönlichem Gefühl entschieden.Nach kurzer Bedenkzeit soll jedes Teammitglied zu jedem Vorschlag seinen Widerstand auf der Skala von 0-10 offen aussprechen oder geheim auf einem Zettel abgeben. Die Ergebnisse werden gesammelt und anschließend auf einem Flipchart für alle sichtbar gemacht.

Im oben skizzierten Beispiel stimmen die zwölf Teilnehmer (T1-T12) folgendermaßen ab:

Es zeigen sich die stärksten Widerstände gegen den Vorschlag B (blau). Allein der Teilnehmer T1 hat gar keine Vorbehalte gegen diesen Vorschlag. Möglicherweise ist es sein eigener! Gleichzeitig votiert er gegen jeden der anderen Vorschläge mit maximalem Widerstand (s. Spalte T1).

Der geringste Widerstand regt sich insgesamt gegen den Vorschlag D (orange) mit 45 Punkten. Damit ändert sich das Ergebnis im Vergleich zur vorherigen Mehrheitsentscheidung, in der ja C (grün) Favorit war. Bevor nun Verbesserungsvorschläge gemacht werden, ist es hilfreich, die Gründe für den Widerstand gegen jeden der vorgebrachten Vorschläge zu erfragen, um zu erkennen, ob er ganz fallen gelassen wird oder ggf. durch Modifikation verbessert werden könnte. Auf diese Weise kommt das Team relativ schnell und vor allem konfliktfrei zu einer einvernehmlichen Lösung und es gibt keine Verlierer. Jeder kann sich im gesamten Prozess durch eigene, konstruktive Vorschläge beteiligen. Das verhindert, dass die Diskussion wieder von vorn beginnt.

Es wird deutlich: Der Boykott anderer Vorschläge führt nicht dazu, dass der eigene Vorschlag dadurch aufgewertet und die Vorschläge der anderen abgewertet werden, wie das der Teilnehmer T1 in unserem Beispiel versucht hat. Im Gegenteil: Sein Vorschlag erhält in unserem fiktiven Beispiel sogar 110 Widerstandspunkte! Erst wenn es T1 gelingt, seinen Vorschlag konsensfähiger zu machen, erreicht er weniger Vorbehalte gegen seinen Vorschlag und damit die Chance, dass dieser vielleicht doch am Ende umgesetzt wird. In der Praxis empfiehlt es sich, noch eine weitere Lösungsoption anzubieten: die sogenannte »Null-Lösung.« Sie befragt die Teilnehmer danach, wie groß ihr Widerstand wäre, am Ende keine Lösung zu haben, also ggf. mit der derzeitigen Situation weiterzuleben.

Kaum ein Team wäre mit einer Null-Lösung zufrieden! Es sei denn, alle eingebrachten Lösungsvorschläge wären so unrealistisch oder uninteressant, dass die Fortsetzung des Bisherigen im Moment noch als die beste Lösung angenommen würde. Zum Schluss sei noch ein Gradmesser (Quotient) vorgestellt, mit dem schnell deutlich wird, ob ein Lösungsvorschlag tragfähig ist und Chancen zur Umsetzung hat, insbesondere wenn es sehr viele Vorschläge gibt. Der Quotient wird durch die Summe der Widerstands-
punkte im Verhältnis zur Anzahl der Teilnehmer gebildet. Bei einer trag­fähigen Lösung bewegt sich der Quotient in einem Bereich von 0 bis 5. Im
obigen Beispiel sind die Quotienten bei den Vorschlägen in der letzten Spalte zu
finden:

A 90 (Widerstandspunkte) : 12 (TN-Zahl) = 7,5 (Quotient)
B 110 : 12 = 9,17
C 75 : 12 = 5,83
D 45 : 12 = 3,75

Bei unserem Team ist bei diesem Stand der Debatte ein größtmöglicher Konsens für den Vorschlag D (orange) gefunden worden. Wenn in der weiteren Beratung kein neuer Vorschlag vorgelegt wird, auf den weniger Widerstandspunkte entfallen, ist D (orange) der Favorit für die Farbgestaltung des Flurbereichs. Die Teammitglieder sollten sich in einer Schlussbesprechung noch einmal über den gesamten Prozess und die gemachten Erfahrungen austauschen. Nach meiner bisherigen Erfahrung mit dem systemischen Konsensieren ist bei einer klaren und transparenten Prozessführung der am Ende gefundene Konsens tragfähig und auch das Team erfährt durch seine Handlungsfähigkeit eine deutliche Stärkung.

Zum Autor: Edzard F. Keibel, berät und begleitet seit über 20 Jahren Waldorfschulen, Waldorfkindergärten, sozialtherapeutische Einrichtungen und andere soziale Organisationen. Er ist u.a. am Waldorfkindergartenseminar Hannover als freier Dozent tätig.

Literatur: G. Paulus / S. Schrotta / E. Visotschnig: Systemisches Konsensieren. Der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg, Holzkirchen 2009