Systemisches Konsensieren
Bei vielen Entscheidungsprozessen eines Teams steht am Ende eine klassische Mehrheitsentscheidung. Bei einer Wahl zwischen mehreren Optionen setzt sich üblicherweise diejenige durch, die eine demokratische Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Anschließend gibt es Gewinner, Verlierer, Unentschiedene und Enttäuschte. Wie ließe sich das vermeiden und stattdessen ein tragfähiger Konsens finden, so dass sich am Ende alle als Gewinner sehen?
Ein einfaches, aber typisches Beispiel
Ein Team von 12 Personen will entscheiden, in welchem Farbton der gemeinsam genutzte Flurbereich der Einrichtung neu gestrichen werden soll. Im Verlauf der Beratung werden folgende Vorschläge gemacht und nach langer Diskussion zur Abstimmung gebracht.
Bei einem Mehrheitswahlrecht fällt die Entscheidung klar zu Gunsten von C aus: Der Flur wird grün gestrichen! Man könnte nun die Entscheidung umsetzen, doch im Team macht sich Unmut breit, denn sieben Personen – also letztlich die Mehrheit – fühlen sich von den fünf anderen überstimmt. Es gibt Sieger und Verlierer. Die Diskussion geht weiter.
In einer nächsten Phase werden einzelne Teilnehmer der Runde versuchen, das eigene Lager zu stärken und das der vermeintlichen Gegner zu schwächen. Mit spitzfindigen Argumenten werden die eigenen oder präferierten Vorschläge und Wünsche verteidigt und die der anderen klein geredet oder sogar angegriffen, was schnell persönlich werden kann.
Der Prozess zieht sich hin. Bei erneuten Abstimmungen verschieben sich möglicherweise die Mehrheitsverhältnisse, aber eine zufriedenstellende Lösung kommt damit auch nicht in Sicht. Eine Entscheidung wird frustriert vertagt, was bedeutet: »Es bleibt wie es ist.«
Wird eine Entscheidung vom Team einfach per Mehrheitsentscheidung »durchgezogen«, weil man das ja einmal so festgelegt oder immer so gemacht hat, könnten die überstimmten Verlierer ein »inneres Konto« für die empfundene Niederlage anlegen. Sie werden eine nächste Entscheidung erschweren, falls auch die wieder zu ihren Ungunsten auszufallen droht. So bilden sich mit der Zeit Grüppchen der Abgehängten und Übersehenen, die frustriert Entscheidungsprozesse aktiv hemmen, blockieren oder sich einfach dem Prozedere entziehen, statt konstruktive Vorschläge einzubringen.
Es ist zu befürchten, dass das langfristig Folgen auf der Beziehungsebene auslöst. Solche Teams verlernen allmählich, einvernehmliche Lösungen zu finden. Stattdessen wächst die Gefahr, dass zunehmend Entscheidungen autoritär durchgezogen werden. In der Not wird manchmal eine alle zufrieden stellende »Wunder«-Lösung von außen erwartet, z.B. von einem Vorgesetzten oder einem externen Berater.
Aber solche Wunder geschehen erfahrungsgemäß selten und führen nicht unbedingt zu einem Konsens.
Wie lässt sich eine derartige Entwicklung vermeiden?
Durch »systemisches Konsensieren«. Bei dieser Methode der Entscheidungsfindung
- werden für jedes vorhandene Problem beliebig viele, aber mehr als drei Lösungsvorschläge gesammelt mit dem verabredeten Ziel, am Ende einen Konsens zu finden;
- werden auftretende Widerstände (oder Vorbehalte) gegen einen oder mehrere Vorschläge als Ressourcen und nicht als Blockade oder Veto verstanden;
- zeichnet sich am Ende die beste Lösung dadurch aus, dass gegen sie die wenigsten Widerstände bestehen;
- wird größtes Einvernehmen (Konsens) hergestellt.
Wie kann das oben beschriebene Team einen Konsens finden?
In einer Bewertung, in unserem Fall der Farbauswahl (sie ist auch ohne vorherige Mehrheitsabstimmung möglich), schaut das Team auf Widerstände bzw. Vorbehalte gegen jeden einzelnen der vorgebrachten Vorschläge. Diese Widerstände werden von jeder Person durch eine individuelle Bewertung erfragt, auf einer Skala von 10 – totaler Widerstand: »Diesem Vorschlag kann ich auf gar keinen Fall zustimmen« bis 0 – völlige Akzeptanz: »Gegen diesen Vorschlag habe ich überhaupt keinen Widerstand, ich kann ihm voll zustimmen.« Alle Wertungen dazwischen werden nach persönlichem Gefühl entschieden.Nach kurzer Bedenkzeit soll jedes Teammitglied zu jedem Vorschlag seinen Widerstand auf der Skala von 0-10 offen aussprechen oder geheim auf einem Zettel abgeben. Die Ergebnisse werden gesammelt und anschließend auf einem Flipchart für alle sichtbar gemacht.
Im oben skizzierten Beispiel stimmen die zwölf Teilnehmer (T1-T12) folgendermaßen ab:
Es zeigen sich die stärksten Widerstände gegen den Vorschlag B (blau). Allein der Teilnehmer T1 hat gar keine Vorbehalte gegen diesen Vorschlag. Möglicherweise ist es sein eigener! Gleichzeitig votiert er gegen jeden der anderen Vorschläge mit maximalem Widerstand (s. Spalte T1).
Der geringste Widerstand regt sich insgesamt gegen den Vorschlag D (orange) mit 45 Punkten. Damit ändert sich das Ergebnis im Vergleich zur vorherigen Mehrheitsentscheidung, in der ja C (grün) Favorit war. Bevor nun Verbesserungsvorschläge gemacht werden, ist es hilfreich, die Gründe für den Widerstand gegen jeden der vorgebrachten Vorschläge zu erfragen, um zu erkennen, ob er ganz fallen gelassen wird oder ggf. durch Modifikation verbessert werden könnte. Auf diese Weise kommt das Team relativ schnell und vor allem konfliktfrei zu einer einvernehmlichen Lösung und es gibt keine Verlierer. Jeder kann sich im gesamten Prozess durch eigene, konstruktive Vorschläge beteiligen. Das verhindert, dass die Diskussion wieder von vorn beginnt.
Es wird deutlich: Der Boykott anderer Vorschläge führt nicht dazu, dass der eigene Vorschlag dadurch aufgewertet und die Vorschläge der anderen abgewertet werden, wie das der Teilnehmer T1 in unserem Beispiel versucht hat. Im Gegenteil: Sein Vorschlag erhält in unserem fiktiven Beispiel sogar 110 Widerstandspunkte! Erst wenn es T1 gelingt, seinen Vorschlag konsensfähiger zu machen, erreicht er weniger Vorbehalte gegen seinen Vorschlag und damit die Chance, dass dieser vielleicht doch am Ende umgesetzt wird. In der Praxis empfiehlt es sich, noch eine weitere Lösungsoption anzubieten: die sogenannte »Null-Lösung.« Sie befragt die Teilnehmer danach, wie groß ihr Widerstand wäre, am Ende keine Lösung zu haben, also ggf. mit der derzeitigen Situation weiterzuleben.
Kaum ein Team wäre mit einer Null-Lösung zufrieden! Es sei denn, alle eingebrachten Lösungsvorschläge wären so unrealistisch oder uninteressant, dass die Fortsetzung des Bisherigen im Moment noch als die beste Lösung angenommen würde. Zum Schluss sei noch ein Gradmesser (Quotient) vorgestellt, mit dem schnell deutlich wird, ob ein Lösungsvorschlag tragfähig ist und Chancen zur Umsetzung hat, insbesondere wenn es sehr viele Vorschläge gibt. Der Quotient wird durch die Summe der Widerstands-
punkte im Verhältnis zur Anzahl der Teilnehmer gebildet. Bei einer tragfähigen Lösung bewegt sich der Quotient in einem Bereich von 0 bis 5. Im
obigen Beispiel sind die Quotienten bei den Vorschlägen in der letzten Spalte zu
finden:
A 90 (Widerstandspunkte) : 12 (TN-Zahl) = 7,5 (Quotient)
B 110 : 12 = 9,17
C 75 : 12 = 5,83
D 45 : 12 = 3,75
Bei unserem Team ist bei diesem Stand der Debatte ein größtmöglicher Konsens für den Vorschlag D (orange) gefunden worden. Wenn in der weiteren Beratung kein neuer Vorschlag vorgelegt wird, auf den weniger Widerstandspunkte entfallen, ist D (orange) der Favorit für die Farbgestaltung des Flurbereichs. Die Teammitglieder sollten sich in einer Schlussbesprechung noch einmal über den gesamten Prozess und die gemachten Erfahrungen austauschen. Nach meiner bisherigen Erfahrung mit dem systemischen Konsensieren ist bei einer klaren und transparenten Prozessführung der am Ende gefundene Konsens tragfähig und auch das Team erfährt durch seine Handlungsfähigkeit eine deutliche Stärkung.
Zum Autor: Edzard F. Keibel, berät und begleitet seit über 20 Jahren Waldorfschulen, Waldorfkindergärten, sozialtherapeutische Einrichtungen und andere soziale Organisationen. Er ist u.a. am Waldorfkindergartenseminar Hannover als freier Dozent tätig.
Literatur: G. Paulus / S. Schrotta / E. Visotschnig: Systemisches Konsensieren. Der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg, Holzkirchen 2009
Stefan Oertel, 12.11.21 21:11
Ist dies ein Vorschlag für das Finden von Konferenzbeschlüssen an Waldorfschulen? Sozialgestaltung mit Hilfe schlauer Arithmetik? Das finde ich sehr traurig. Wie soll das Geistesleben je innere Kraft, Tiefe und Menschen-einende Wirkung erlangen, wenn wir uns angewöhnen solchen Algorithmen-artigen Prozeduren zu folgen?
Die Problematik der demokratischen Abstimmung, die am Anfang des Artikels beispielhaft gezeigt wird, ist offensichtlich. Es hat seinen Grund, dass Steiner das Prinzip der Demokratie nicht dem Geistesleben (Schule) zuordnet. Ausdrücklich soll es sogar dort herausgehalten werden. Und leider ist auch die angebotene Alternative des “systemischen Konsensierens” ein etwas vertrackt gebautes, aber letztlich doch demokratisches Vorgehen.
Es wäre viel sinnvoller, ernsthaft die Frage zu stellen, welche Flurfarbe den Kindern unabhängig von allen Privatmeinungen und "Konsensen" tatsächlich gemäß ist - z.B. hinsichtlich Alter, pädagogisch-therapeutischen Bedürfnissen u.ä. In einer konkreten Situation wird es darauf eine konkrete optimale Antwort geben. Die ergibt sich aus dem Wesen der Kinder, der Pädagogik, dem Wesen der Farben, dem Raum, dem Geld usw. – kurzum nicht aus meiner privaten persönlichen Meinung, sondern aus dem, was das Wesen der Sache fordert.
Dieses Wesen der Sache spricht immerfort zu mir – ich muss nur in der Lage sein, hinzuhören. Es ist die wahre Wirklichkeit selbst, die da zu mir spricht. Freilich, wenn ich nicht glaube, dass sie existiert oder nicht glaube, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit sie erreichen kann, dann habe ich keine Chance den Prozess weiterzuführen. Dann muss ich “konsensieren” gehen. Aber dann verstehe ich auch die Anthroposophie und namentlich Steiners Erkenntnistheorie nicht. Auf deren Boden steht aber die Waldorfpädagogik.
Für die Selbstverwaltung besteht die eigentlich Aufgabe darin, die Konferenz bzw. deren Mitglieder in eine Verfassung zu bringen, in der man nicht mit festen Meinungen gegeneinander antritt, auch nicht mit abgestuften, privaten Widerstandsbewertungen, sondern in der man Beobachtungsfähigkeit, Denkkraft und Gesprächsinhalt auf das Wesen der Dinge selbst ausrichtet. Man muss die Wahrheit erlauschen. Jeder alleine und doch auch wieder im Gespräch.
Selbstverständlich darf man den Apfel der Erkenntnis nicht zu früh vom Baume reißen, nur weil man ihn schnell haben will. Dann ist er unreif und jeder hat doch wieder nur seine eigene “Meinung”, weil eben die so gepflückte “Erkenntnis” eine Frühgeburt ist. Damals im Garten Eden gab es das schon mal, und der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt. Die Wahrheit fällt vom Baum, wenn es denn Göttern gefällt – nicht eher. Dann aber, WENN sie fällt, sollte die menschliche Seele nicht gerade schlafen. Dann muss sie wach sein, sich durch Sehnsucht reif gemacht haben, die Erkenntnis zu empfangen!
Das ist nicht gerade ein unpassende Stimmung für eine Konferenz – den Dingen ihre Wahrheit ablauschen zu wollen, oder? Es schafft auch Frieden untereinander. Und selbstverständlich wird man oft scheitern, lange vor dem Ziel. Aber das macht nichts, weil man sich gemeinsam an der SACHE ausrichtet. Und weil in solch eine Stimmung eigentlich keine einseitigen Ego-Meinungen, Allianzen und taktische Schachereien mehr hineinpassen.
Denn, sofern der Blickwinkel des anderen nicht gerade ein Irrtum ist, komme ich der Wahrheit ein Stück näher, indem ich ihn einzunehmen versuche. Und das wird möglich im gemeinsamen Konferenzgespräch. Aber auch in Irrtümer kann ich mich hineinversetzen, ich weiß ja zunächst nicht unbedingt, dass es Irrtümer sind. Das wird sich im Laufe des Prozesses aber für alle zeigen. Der den Irrtum hatte, wird ihn zuletzt gerne loslassen, wenn er die Dinge mehr liebt als seine eigenen Überzeugungen!
Sicherlich funktioniert das alles nur, wenn man ein wenig von der geisteswissenschaftlichen Schulung, die Rudolf Steiner der Menschheit empfiehlt, auch wirklich anstrebt. Denn der Schritt zur Wirklichkeit der Dinge ist umringt von Kräften der Täuschung und Selbsttäuschung. Mir scheint, es ist wie eine Art Schwellenübertritt, der da notwendig ist.
Und selbstverständlich kann man auch zu dem Schluss kommen, dass man die Entscheidung einem “Experten” überlässt – warum nicht? Man kann nicht alles selber gut beurteilen. Aber dann muss man ein Urteil darüber suchen, WELCHEM Experten man sich anvertraut. Und dann findet eben auf dieser Ebene der beschriebene Prozess statt.
So lässt sich die Demokratie aus dem Geistesleben heraushalten und man erlangt Einmütigkeit. Was für ein Wort!
Zu viel verlangt? Zu unrealistisch? Nun ja, die Dinge richten sich nicht nach unseren Meinungen und Konsensen, nicht nach unserer Bequemlichkeit. WIR müssen uns nach den DINGEN ausrichten. Nur wenn wir uns so herum wenden, wird unser Handeln auch echten Erfolg haben und die Welt zum Guten wandeln. Und wir werden durch die Wahrheit geeint sein – ein wenig wie an Pfingsten.
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