Transhumanismus – das Ende des Menschen?
Vom 7.-9. September fand am Goetheanum eine außergewöhnliche Tagung statt: eine Kulturtagung zum Thema transhumanistischer Zukunftsvisionen. Außergewöhnlich nicht nur des Veranstaltungsortes wegen, sondern auch weil sich zu diesem hochaktuellen Thema Referenten äußerten, deren berufliches Arbeitsfeld unterschiedlicher nicht sein könnte.
Wir steuern mit Riesenschritten, befeuert von Milliarden an Stiftungsgeldern, auf den künstlichen Menschen zu. 2045 soll es soweit sein, dass Mensch und Maschine eins sind, die Sterblichkeit besiegt und die humane Selbstbestimmung in die algorithmische Fremdsteuerung übergegangen ist.
Dabei fängt alles ganz harmlos bei jedem selbst an und jeder betreibt sie: die physische, seelische und geistige Selbstoptimierung. Diese sogenannte Enhancement-Entwicklung verläuft exponentiell. Wir wollen schön und gesund sein und unternehmen, von der Werbeindustrie stimuliert, allerhand, um schmerzfrei und juvenil ins Greisenalter zu hüpfen. Damit sind nicht nur Brustvergrößerungen, Zahnimplantate und Herzschrittmacher gemeint, sondern Künstliche Befruchtung, Pränatale Diagnostik, Prothetik und das Anlegen von Organbanken, die im Bedarfsfall physisch Suboptimales ausmerzen sollen. Und wir greifen weiter ein: Sind wir depressiv, Psychopharmaka, Neurotransmitter und Hormongaben justieren uns neu; sind wir nicht klug genug, »lernen« wir via Neurolinks und Interface-Schnittstellen, indem unser Gehirn mit Weltwissen und »Gefühlen« gefüttert wird, »individualisiert« von unserem digitalen Profil. Am Ende wird der menschliche Bios überflüssig, das Humanum mechanisiert. Das ist kein Horrorszenario, sondern inzwischen politische Realität: Der Roboter »Sophia« hat die Staatsbürgerschaft von Saudi-Arabien erhalten und kann somit als politisches Oberhaupt gewählt werden. Und wem ist es gegenwärtig, dass eine transhumanistische Partei in Polen 15 Prozent der Wählerstimmen bei den letzten Wahlen erhielt?
Der Transhumanismus ist keine Technokratenhirnen entsprungene Utopie, sondern eine konkret betriebene, ethisch hoch explosive Forschungspraxis, angetrieben von den größten Computer- und Softwarefirmen der Welt – wie zu Beispiel durch Google-Alphabet Inc.: Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben und gottgleicher Allmacht ist nicht zuletzt ein lukratives Geschäftsmodell.
Der thematische Bogen wurde nahezu bis zum Anschlag gespannt, ohne vorschnell von einer einordnenden anthroposophischen Nomenklatur vereinnahmt zu werden. Durch die Präsenz der Kunstschaffenden und der Wissenschaftler mit ihren »Werken«, kam es sowohl bei Teilnehmern wie Referenten zu einem außergewöhnlichen Evidenzerlebnis: Hier der Mensch, der sein Weltverhältnis aus seinem Inneren schöpft und individualisiert zum Ausdruck bringt. Und dort der äußere Mensch, der sich (freiwillig) fremdbestimmen lässt, seine Autonomie aufgibt und in den sich standardisierte Sinnes-, Wahrnehmungs-, Gedanken und Handlungsmuster eindrücken.
Die Kulturtagung wurde von der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum, moderiert von Christiane Haid und Ariane Eichenberg, ausgerichtet. Welche Dimensionen dieses hochaktuelle Tagungsthema hat, zeigt die Liste der Referenten: Roland Benedikter, Politikprofessor in Bozen mit hervorragenden Kontakten in die Think Tanks der Transhumanisten; Michael Hauskeller, Philosophieprofessor an der Universität Liverpool, der zu den moralischen Grundlagen des Enhancements forscht; Christian Kreiß, Wirtschaftsprofessor an der Hochschule Aalen, der sich für eine menschengerechte Wirtschaft einsetzt; Yaroslava Black-Terletzka, Priesterin der Christengemeinschaft, die sich mit dem Thema Ursprungsmythen beschäftigt; René Madeleyn, leitender Arzt in der Filderklinik, zum Thema künstliche Befruchtung; schließlich die bekannten und sehr unterschiedlichen Schriftsteller Galsan Tschinag, Schamane, Stammeshäuptling aus der Mongolei; Patrick Roth (Sunrise) und Sibylle Lewitscharoff (Das Pfingstwunder), die aus ihren Werken lasen und dazu ausführten.
Wir sind durch die technische Entwicklung aufgefordert, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was uns menschliches, selbstbestimmtes Handeln auf der Grundlage eigener Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit bedeutet. Gibt es den »freien« menschlichen Willen? Gibt es ein unhintergehbares, nicht replizierbares menschliches Ich? Worin besteht der Unterschied zwischen einem selbstlernenden digitalen Cyborg und einem Menschen, der zu einer realen Wesensbegegnung fähig ist – Fragen, denen in einer Folgetagung im nächsten Jahr nachgegangen werden soll. Eine Buchpublikation ist in Vorbereitung.
Galsan Tschinag steht allein auf der Bühne des großen Saales im Goetheanum. Er dreht sich langsam im Kreis und ruft die Götter an. Sein melodischer Gesang, seine Stimme scheint nicht aus seinem Mund, sondern aus einem schwebenden und klingenden Resonanzraum zu tönen – ein Ereignis, das die Zuhörer ergreift. Wo war das Ich dieses Schamanen? In ihm konzentriert und kosmisch weit zu gleicher Zeit.
Steffen Wallat, 28.11.18 11:11
Sehr geehrter Herr Maurer,
ich habe ihren Artikel zum Transhumanismus gelesen und vermisse ein wenig eine Haltung/Positionierung zu dieser »transhumanen« Bewegung ihrerseits bzw. der Erziehungskunst.
Ich persönlich finde es befremdlich wie aus dem Werkzeugbau – für das halte ich Software-Entwicklung grundsätzlich – solche »Gott-Spielereien« erwachsen.
Ich halte unsere derzeitige digitale Infrastruktur für so mangelhaft und unzureichend (siehe Artikel unten), dass ich die Entwicklung noch komplexerer Systeme, davon reden wir ja wahrscheinlich bei »transhumanen Systemen«, für blödsinnig bzw. gefährlich halte.
Ich selbst arbeite in der Software-Entwicklung und schreibe immer mal wieder einen Artikel (siehe Bsp. unten) für unsere Schul-Zeitung (FWS Sorsum/Hannover), um unsere Zeitgenossen zum Mitgestalten – auch wenn es erst einmal »nur« Forderungen und Ideen sind – der digitalen Infrastruktur zu bewegen.
Die Ausgestaltung dieser Infrastruktur sollte nicht weiterhin nur den Technokraten und Geschäftsleuten überlassen bleiben.
Wie ist ihr Standpunkt dazu?
MfG
Steffen Wallat (Vater von zwei Söhnen, von denen der Jüngere die Waldorfschule Sorsum besucht)
Digitalisierung: Leave everything up to us!
In der fortschreitenden Digitalisierung gehören Software-Updates zur häufig unvermeidlichen Tätigkeit im Alltag eines jeden Users [1]. Neulich, während eines ebensolchen Vorgangs, wurde mir über den Bildschirm eine großformatige Nachricht eingeblendet: »Leave everything up to us!«. Mein erster Gedanke war: »Klar, was bleibt mir auch anderes übrig …« [2]
Nachfolgend kam mir aber der Gedanke, ob das »Everything« nicht nur die Aktualisierung dieser einen Software meint, sondern weiter gefasst, dass ich dem Anbieter meine gesamte digitale Infrastruktur überlassen soll: »Mach's dir bequem, wir erledigen das (Digitale) schon zu deinem Besten: Deine Bilder, deine Dokumenten-Verwaltung, deine Zahlungs-Abwicklungen, die Pflege deiner Kontakte/Netzwerke, deine Produkt-Bestellungen, die Sicherung deiner Dateien usw.«.
Ist es nicht das, was uns einige Firmen (bspw. GAFA [3]) einreden möchten, dass die Ausgestaltung der digitalen Infrastruktur (zu unserem Besten) ihnen überlassen bleiben sollte? Aber erfolgt diese Ausgestaltung tatsächlich auch zu unserem Besten? Was ist mit:
- der Meinungsbildung über korrumpierte Daten-Plattformen (u.a. Facebook, Twitter) [4],
- dem Cybermobbing [5],
- der zunehmenden »Vermüllung« des Webs, u.a. durch die Datenlast von Drittanbietern auf vielen Webseiten [6],
- dem Betrieb vom »Zahlungs-Netzwerk« Bitcoin (wer legitimiert Bitcoin eigentlich zu so einem gigantischen Stromverbrauch von 66TWh (Stand: April 2018)? [7]),
- der »Durchleuchtung« der (digitalen) Privatsphäre (u.a. Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner)? [8][9],
- dem Aufbau von »Smart Cities«, die mit einer Vielzahl von Sensoren ausgestattet werden (wie Google es wohl gerade in Toronto pilotiert)? [10]
Sollten nicht die Internet-und Software-Kompetenzen bei vielen Usern aufgebaut werden, statt diese bei wenigen Firmen zu »monopolisieren«? Wer soll das Wissen, wer die Macht haben? Wer hat die Ohnmacht?
Einige Initiativen haben angefangen, Anforderungen an die digitale Infrastruktur zu stellen wie sie (nicht) seien soll und suchen/brauchen die Unterstützung von uns, der Usern:
- das Einfordern digitaler Grundrechte [11],
- die Ächtung autonomer Waffensysteme [12],
- den Datenschutz als Grundrecht pflegen [13],
- Die Verbreitung von »freier« Software mit offen gelegtem Code/Algorithmen [14],
- alternative Suchmaschinen mit Datenschutz und Privatsphäre (bspw. https://searx.me/) [15]
Nach Tim Berners-Lee, einem der Väter des World Wide Web, haben die kommenden (User-)Generationen mit der Infrastruktur zu leben, die wir heute entwerfen. But, people created it, people can fix it. [16]
[1] hat eigentlich jemand mal nachgezählt, wieviel Zeit der Durchschnitts-User in der Woche mit der Pflege seines häuslichen "Geräte-Zoos" (Smartphones, PCs etc.) verbringt?
[2] aber bitte keine Verschlimmbesserungen: https://bit.ly/2CzuXac [Borns IT Blog]
[3] http://www.digitalwiki.de/gafa/
[4] https://bit.ly/2OUN2oZ [Süddeutsche Zeitung]
[5] https://bit.ly/2ytHGX8 [klicksafe]
[6] https://www.kuketz-blog.de/kommentar-das-bullshit-web/
[7] https://ind.pn/2Kuf9VP [The Independent]
[8] https://bit.ly/2QCtQJz [digitalcourage]
[9] https://bit.ly/2A1iIAw [digitalcourage]
[10] https://wiki.fuckoffgoogle.de/index.php?title=SmartCities
[11] https://digitalcharta.eu/
[12] https://bit.ly/2KPwooz (mit verlinkter Unterschriftenliste) [future of life]
[13] https://dsgvo-gesetz.de/
[14] https://www.fsf.org/about/what-is-free-software
[15] https://netzpolitik.org/2018/interview-searx-eine-suchmaschine-mit-datenschutz
[16] https://bit.ly/2GgjvyZ [Guardian]
Links Stand: 26.09.2018
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