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Ungewohnte Nähe

Hanna Gohlke

Mein Alltag in der Schule ist strukturiert und bietet mir gleichzeitig viele Möglichkeiten und Freiheiten zur Entwicklung eigener Ideen und Therapieansätze. Vor meinem Aufenthalt in Kirgisistan habe ich vor allem Erfahrungen im wissenschaftlichen Arbeiten und in der Therapie von psychiatrischen erwachsenen Patienten:innen gesammelt. Die Arbeit mit Kindern mit Assistenzbedarf ist für mich neu und ich kann noch Vieles lernen.

Es ist insgesamt ein sehr warmes und freundliches Umfeld, das ich jeden Morgen gerne betrete. Das Klassenzimmer ist groß, mit vielen Teppichen ausgelegt, bunten Farben an den Wänden, Bildern, Stiften, Kissen und Decken. Es ist immer viel zu warm in den Innenräumen, und mein Versuch häufiger zu lüften wird von den Assistentinnen nur langsam angenommen. Die Kinder haben sehr unterschiedliche Einschränkungen, sind auf verschiedenen kognitiven und motorischen Niveaus und haben so individuelle Förderbedürfnisse. Es erfüllt mich mit viel Wärme, wenn ich daran denke, wie ich ihre Eigen- und Besonderheiten sowie ihre Vorlieben in den letzten drei Monaten immer besser kennengelernt habe. In meiner Klasse arbeitet vormittags auch ein russischer Psychologe, der sich auf Gestalttherapie fokussiert hat, und der vor allem zwei autistische Jungen fördert. Ich freue mich sehr, dass er mir sein Arbeiten in der Einzeltherapie mit den autistischen Kindern zeigt und ich so viel dazulernen kann.

Die Klassenlehrerin leitet den Morgenkreis sehr liebevoll, so dass jedes Kind miteinbezogen wird. Die russischen Lieder und Reime sind für meine Sprachförderung nützlich, auch wenn ich nur langsam ein paar Lieder unsicher mitsingen kann. Mittlerweile übernehme ich nach dem Morgenkreis zusammen mit meiner Mitfreiwilligen die heileurythmische Therapie für die am schwersten eingeschränkten Kinder aus der Klasse. Ich hatte das Glück, dass in meinem ersten Monat in »Ümüt-Nadjeschda« eine pensionierte Heileurythmistin aus Deutschland zu Besuch war und bei uns in der Schule Heileurythmie in Form von Wochenendseminaren unterrichtet hat. Auch wenn ich Teilen der Heileurythmie etwas skeptisch gegenüberstehe, habe ich gelernt, wie wichtig Berührung ist. Das Begleiten ihrer Hände und Arme in sich wiederholenden Bewegungen bei der Aussprache der Vokale und Konsonanten weckt in vielen Kindern eine Reaktion. Ob das A die Seele erreicht, das D ins Stehen führt oder das M erdet, kann ich nicht sagen, aber grundlegende motorische Übungen, verbunden mit den summenden, beruhigenden oder aufweckenden Lauten, können bei manchen zumindest den Moment einer Fokussierung oder sogar ein Lächeln auslösen. Die Übungen wende ich momentan so gut wie möglich an und einmal die Woche werden wir aus Deutschland via Zoom supervidiert. Danach begleiten wir die Kinder beim Frühstücken. Hier versuchen wir die Selbständigkeit zu fördern, auch wenn jeder eine Herausforderung darstellen kann. Nach dem Frühstück der Kinder sitzen wir Freiwilligen, Lehrerinnen und Assistentinnen bei Chai (schwarzer Tee) und Kascha (Hafer- oder Reisbrei) zusammen. Jeden Morgen gibt es frisches Xleb (Brot) und es wird immer wieder Chai nachgeschenkt.

Der Nachmittag verläuft eher unstrukturiert. Es ist schwer, mehrere Kinder in eine Aktivität einzubeziehen, weil ihre Möglichkeiten häufig so verschieden sind. Aber mit der Zeit habe ich ein paar Dinge gefunden, die den Kindern Freude bereiten und sie auf ihrem individuellen Level fördern können. Sei es beim Staubsaugen helfen, mit Wasserfarben malen, Puzzle lösen, zu Ruhe kommen und Musik hören oder Körperteile benennen. Wenn das Wetter schön ist, gehen wir auch häufig nach draußen auf den Spielplatz, schaukeln zusammen, sitzen auf dem Karussell oder die Kinder reiten eine Runde auf dem Therapiepferd der Schule. Viel Zeit vergeht mit Dingen wie Anziehen, die jeweiligen Taschen zusammen zu suchen, Kinder aus und in die Marschrutka (Kleinbus) zu heben, sie zu wickeln, mit ihnen die Hände zu waschen oder aufs Klo zu gehen, sie hoch zu heben, umher zu wirbeln, sie zu umarmen. Diese Form der körperlichen Nähe im therapeutischen bzw. erzieherischen Umgang war mir neu und die körperliche Distanz, die in sämtlichen Patient:innen-Behandler:innen-Beziehungen besteht, ist in der Beziehung mit den Kindern aufgehoben. Gleichzeitig merke ich, wie diese Nähe etwas in mir öffnet und diese Zuneigung der Kinder, die mir in den Wochen immer vertrauter wurden, mich auf einer anderen Ebene erreicht. Hier sind keine Datenpunkte, keine Gehirnregionen, die statistisch signifikant leuchten können, oder keine Interviews, die ich als stille Beobachterin transkribiere: Hier steht jedes einzelne Kind im Mittelpunkt. Jeder Tag ist anders. Jedes Hand-Ergreifen, Abweisen oder Auf-mich-zu-Gehen macht den Moment zu dem, was eigentlich zählt.

Insgesamt fühle ich mich sehr gut aufgehoben in »Ümüt-Nadjeschda«. Alle Assistentinnen, Lehrerinnen, die Leitung und unsere Ansprechperson in der Schule haben uns Freiwillige sehr herzlich aufgenommen. Bei sämtlichen Fragen konnten wir uns ohne Probleme an sie alle wenden. Unsere Unterkunft im Dachboden des sich in Renovierung befindendlichen Kindergartens ist sehr gemütlich und wir haben uns in Absprache mit der Leitung von »Ümüt-Nadjeschda« entschlossen hier weiter wohnen zu bleiben. Momentan freuen wir uns, bei der Neugestaltung des Kindergartens mitwirken zu können, und malen auf zwei großen Wandbildern die vier Jahreszeiten. Mir gefällt an unserem momentanen Zuhause besonders, dass wir an der Stadtgrenze leben und gut an die Stadt angebunden sind, aber dennoch innerhalb von einer halben Stunde zu Fuß in den Bergen (Ausläufer des Ala-Too-Gebirges) sind. So kann ich meinen Laufsport hier aufrechterhalten und wir haben trotzdem die Möglichkeit Cafés, Restaurants und die verschiedenen Viertel der Stadt zu erkunden und uns frei zu bewegen. Wenn ich laufen gehe, freue ich mich, den Bergen näher zu kommen und die Stadt hinter mir zu lassen. Besonders wenn die Gruppe von Pferden vor der Gebirgslandschaft grast, eine Kuh ihr frisch geborenes Kalb ableckt und Schafe auf den Hügeln über der Stadt laufen. Manchmal begegne ich in der Steppe einem kirgisischen Hirten, der auf einem Pferd reitet. Als dieser mir am 1. Januar »С Новым годом!« (Frohes Neues Jahr!) zurief und ich es beim zweiten Mal auch verstand und es sogar erwidern konnte, erfasste mich das warme Gefühl, mit dieser Welt, der ich jetzt seit ein paar Monaten angehöre, in Kontakt treten zu können. Diese kleinen Wortwechsel – Konversationen kann man es nicht nennen – zeigen mir, dass ich zumindest kleine Fortschritte im Russischen gemacht habe. Ich merke, dass ich ein paar Wörter verstehen und selten auch ein paar selber sagen kann. In der Schule können sich die meisten Kinder nicht verbal verständigen und die meisten der Assistentinnen und Lehrerinnen sprechen kein oder wenig Englisch oder Deutsch. Tatsächlich arbeite ich aber mit einer Klassenlehrerin zusammen, die zwei Jahre lang in Genf gelebt hat. Auch ich habe ein Jahr während meine<s>s</s> Studiums im französisch-sprachigen Landesteil der Schweiz verbracht. Also wird in meiner Klasse ein Mix aus Russisch, Kirgisisch, Französisch, Englisch und Deutsch geredet. Google-Translate hilft aber auch des Öfteren aus. Mir fällt auf, dass ich mich beim Lernen der russischen Sprache gegen die langen Aneinanderreihungen von Konsonanten und die mir fremden Laute sperre. Ich kann der Sprache noch wenig Ästhetik abgewinnen, auch wenn mich fremde Laute wie im Schwedischen, Portugiesischen oder im Hindi häufig begeistert haben. Mir wird hier bewusst, dass für mich die russische Sprache negativer konnotiert ist, als mir bewusst war. Wenn Russland in den deutschen Medien präsentiert wird, sind es fast immer negative Berichterstattungen. Gerade jetzt ist die politische Situation sehr angespannt und das Gefälle zwischen Westen und Osten wird wieder extrem deutlich. Meine Familiengeschichte, die meine Kindheit stark geprägt hat, da ich mit meinen beiden Großelternpaaren in einem Haus aufgewachsen bin, hat – wenn auch mir häufig nicht direkt zugänglich – ihre Spuren in meiner Wahrnehmung hinterlassen. Meine Großmutter mütterlicherseits überlebte im Zuge des Zweiten Weltkrieges Verschleppung und vier Jahre russisches Arbeitslager, die Großmutter väterlicherseits floh im Winter 1945 vor dem russischen Militär aus Ostpreußen und meine Mutter wollte den Kommunismus in Rumänien einschließlich der russischen Sprache weit hinter sich lassen. All das trug wohl zu diesem Bild bei, das ich über die ehemalige Sowjetunion hatte und welches sich immer mehr verändert: Ja, die sowjetische Architektur, diese grauen tristen Häuser, die unebenen Straßen, die quadratischen Fellmützen, all das sehe ich hier wirklich, aber ich sehe auch ein Lächeln auf den Gesichtern. Ich sehe keine leeren, unfreundlichen Gesichter, sondern individuelle Geschichten. Ich sehe mittlerweile eine gewisse Ästhetik in den Plattenbauten und der sowjetischen Architektur. Ich höre eine Sprache, die sich mir langsam immer mehr öffnet, und nehme eine Vielzahl an Ländern wahr, die ich in Osteuropa und Zentralasien noch entdecken möchte.

Morgens, wenn wir uns auf den Weg zur Schule machen, sehen wir die blauen Berge des Ala-Too-Gebirges am Ende der Straße. Das Rot-Orange der Morgensonne schiebt sich langsam über das Blau und leuchtet in die staubigen Straßen. Die Luft hängt am Morgen noch klarer in den Straßen, weniger vom strengen Kohlegeruch geprägt, der am Nachmittag und Abend häufig in dunklen Schwaden über die Stadt schwappt. Treten wir aus der Tür, wurden wir meistens von unseren zwei Hunden ложка und вилка begrüßt. »Loschka« bedeutet Löffel und »Wilka« Gabel und beides waren zwei unserer ersten russischen Wörter. Leider ist вилка, der mich auch beim Laufen in die Berge begleitet hatte, vor einer Woche angefahren worden und starb. Wir haben ihn nur noch tot am Straßenrand gefunden.

Wir sind mittlerweile acht Freiwillige in »Ümüt-Nadjeschda« und wohnen zu sechst in einem großen Zimmer. Auch wenn wir sehr nah beieinander sind und keine Tür hinter uns schließen können, empfinde ich unsere Gemeinschaft als stützend und bereichernd. Wir harmonisieren als Gruppe meinem Empfinden nach sehr gut und ich habe mich auf unserem Dachboden schnell zu Hause gefühlt. Außerdem arbeiten in unserer Einrichtung auch kirgisische Freiwillige, mit denen wir uns schnell anfreunden konnten und von denen einige dieses Jahr einen Freiwilligendienst in Deutschland starten werden. So freue ich mich, dass dieser Austausch auch wirklich in zwei Richtungen geht und ich ihnen nach meiner Rückkehr nach Deutschland mein Zuhause zeigen kann.

Wenn ich mittlerweile selbstverständlich die Marschrutka zur Arbeit nehme, am Abend der Muezzin ruft und das blaue Weiß der Berge sichtbar ist, erfüllt mich ein warmes Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Freude, dass ich die letzten drei Monate hier verbracht habe und mit dem langsam schwindenden Gefühl der Fremdheit durch die Straßen Bischkeks laufe. Die Menschen um mich und meine Möglichkeit, mich für sie zu öffnen, sowie den Moment an sich als den richtigen zu empfinden, geben mir Leichtigkeit in meinem Gehen. Ich bin voller Neugier auf die nächsten Monate in diesem schönen Land und freue mich, noch viele Momente mit den Kindern hier erleben zu können.

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