Unsere Demokratie und unsere Schüler – eine Anregung

Markus von Schwanenflügel

Ein Einstieg könnte das Problem des Lobbyismus sein: Seit Jahren liegt die Forderung nach mehr Transparenz bzgl. der verschiedenen Möglichkeiten der Einflussnahme auf unsere Volksvertreter auf dem Tisch, aber selbst nach der Maskenaffäre bleibt das unter Notwehrbedingungen von der Großen Koalition verabschiedete Lobbyregister immer noch hinter den Standards zurück, die auf EU-Ebene schon seit mehreren Jahren gültig sind. Auf dem Hintergrund der Tatsache, dass selbst Ehrenerklärungen offensichtlich keine Sicherheit bringen, ist es allerdings ohnehin unwahrscheinlich, dass auf diese Weise der Sumpf trockengelegt werden könnte.

Dies ist ja nur eines der Symptome, dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Als junger Mensch kann man da doch nur auf die Barrikaden gehen oder sich angewidert abwenden und sagen: Macht Euren Dreck allene!

Beides sollten wir nicht wollen. Doch welche Perspektive könnten wir der Jugend eröffnen? Wo könnte der Veränderungshebel angesetzt werden? Wären Volksabstimmungen ein geeignetes Mittel? Schon seit 1987 tourt der OMNIBUS für Direkte Demokratie durch Deutschland und wirbt für diese Form der direkten Beteiligung an der Ausgestaltung unseres Staates. Mit Erfolg, denn seit der Wiedervereinigung haben alle Bundesländer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in ihre Verfassungen aufgenommen. Die letzte große Volksabstimmung in der Schweiz, die mit einer »Mehrheit« von nur 51% zu einem Burkaverbot führte, hat mich jedoch sehr nachdenklich gemacht. Nicht primär wegen des Ergebnisses sondern wegen der voraufgehenden Kampagne: Mit dem Slogan: »Extremismus stoppen! Verhüllungsverbot JA« neben einem Bild, das sehr stark an stilisierte Darstellungen von Terroristen »mit Migrationshintergrund« erinnerte, wurde Stimmung gemacht. Dieses hat, so wird befürchtet, zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft bzgl. der viel grundsätzlicheren Frage der Integration von Migranten geführt. Unabhängig davon ob in Deutschland eine Volksabstimmung zu dieser Frage zugelassen worden wäre (1), scheint mir die Emotionalität, mit der hier von beiden Seiten versucht wurde, die Bürger zu überzeugen, ursächlich mit der für Volksabstimmungen typischen Ja -/Nein – Entscheidung zusammenzuhängen. Von Anfang an geht es bei dieser Form der Bürgerbeteiligung ja nicht darum, einen Kompromiss in einer bestimmten Frage zu erreichen, sondern eine mehr oder weniger große Gruppe formuliert eine Forderung und dann beginnt der Kampf um jede Stimme. Angesichts der Erfahrungen, die wir in der letzten Zeit machen konnten, was sich auf den Straßen abspielt, wenn es dort über kontroverse Themen zu Auseinandersetzungen kommt, ist dieser Ansatz, die massiven gesellschaftlichen Probleme, die anstehen, einer Lösung näher zu bringen, vielleicht doch – in dieser Form jedenfalls – sehr riskant.

Nun wird – von der großen Öffentlichkeit noch wenig bemerkt – in den letzten Jahren ein anderes Verfahren der Direkten Demokratie immer häufiger eingesetzt: die Bürgerversammlungen bzw. Bürgerräte. Überwiegend arbeiten sie auf kommunaler Ebene, aber auch auf Bundesebene haben ja vor kurzem die Bürgerräte »Demokratie« und »Deutschlands Rolle in der Welt« stattgefunden. (2) Auch Sie und ich hätten dabei sein können, denn die jeweils etwa 160 Mitglieder wurden aus den Einwohnermelderegistern Deutschlands per Los bestimmt. Wieder finde ich weniger die Ergebnisse als die Arbeitsweise interessant. Sie ist – und das unterscheidet dieses Instrument der Bürgerbeteiligung grundlegend von einer Volksabstimmung – im gesamten Verlauf auf wechselseitiges Verstehen und auf Konsens hin orientiert. So weit und solange es irgend geht, werden Kompromisse zwischen den verschiedenen Standpunkten gesucht. Die beiden genannten bundesweiten Bürgerräte wurden sorgfältig vorbereitet, professionell begleitet und hinterher ausgewertet. Die Menschen, die teilgenommen haben, sind überrascht davon, dass sie sich in einer zufällig – möglichst repräsentativ – zusammengewürfelten Gruppe in kurzer Zeit auf viele Essentials einigen konnten. Die meisten der 22 Empfehlungen des Bürgerrats Demokratie erhielten in der Abschlussrunde Zustimmungswerte zwischen 90% und 100% und wurden dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble zur Behandlung im Parlament übergeben. Die Teilnehmer fragten sich aber auch, wie dieses Verfahren weiterentwickelt werden kann, denn bisher, muss man ehrlicher Weise sagen, landen die meisten der mit großem Aufwand erarbeiteten Vorlagen nach kurzer meist wohlwollender Kenntnisnahme in der Schublade. Ein direkter Einfluss von Bürgerräten auf die politischen Entscheidungen ist nicht vorgesehen. Das ist auf den ersten Blick auch verständlich, denn ihre Mitglieder sind ja weder durch eine Wahl legitimiert noch Experten bzgl. der behandelten Fragen, sie sind nur »gewürfelt«.

Nun wollte es der Zufall, dass ich, als ich über diese Fragen nachdachte, zur anderweitigen Erweiterung meines Horizontes ein Corona-Video eines Kollegen anschaute und dieser für einen Moment ein Buch in die Kamera hielt. Sein Titel, so huschte es mir durch den Sinn, passte zu meinem Thema. Als ich mich jedoch am nächsten Tag versuchte daran zu erinnern, hatte ich die genaue Formulierung und auch den Namen des Autors natürlich vergessen. Zum Glück war das Video noch nicht gelöscht und so konnte ich mir »Gegen Wahlen. Warum abstimmen nicht demokratisch ist« von David Van Reybrouck (3) besorgen. Und das hat sich gelohnt, denn bei der Lektüre wurde mir deutlich, dass mein historisches Bewusstsein einige entscheidende Lücken aufwies. Ich wusste zwar z.B., dass die Wiege der Demokratie das alte Athen war und dass »selbstverständlich« weder die Frauen noch die Sklaven mit δῆμος gemeint und »wahlberechtigt« waren – dass aber fast gar nicht gewählt wurde, das wusste ich nicht. In der Volksversammlung hatte jeder(freie) Bürger Rederecht, die Mitglieder des Rates der 500, der für die laufenden Regierungsgeschäfte verantwortlich war, und der Volksgerichte wurden per Los aus der Menge aller (freien) Bürger bestimmt; und das hat fast eineinhalb Jahrhunderte funktioniert: es war eine Blütezeit der attischen Republik.

Die Details der Organisation der Verfahren – z.B. eine ausgefeilte Rotation der Ämter und die Begrenzung der Amtszeit auf ein Jahr – sind insofern interessant, als gezielt illegitime Machtkonzentration und Einflussnahme verhindert und gleichzeitig eine hohe Beteiligung der Bürger in der praktischen Regierungs - und Verwaltungstätigkeit erreicht werden sollten. Dies führte, wie man sich vorstellen kann, zu einer starken Identifikation der Athener mit ihrem Staat. Van Reybrouck bringt es auf den Punkt: »Ausgeloste Bürger haben vielleicht nicht die Expertise von Berufspolitikern, aber sie haben etwas anderes: Freiheit. Sie brauchen ... nicht wiedergewählt zu werden.«

Es ist hier nicht der Ort, den Inhalt des engagiert und kurzweilig geschriebenen Buches von Van Reybrouck weiter zu referieren. So viel sei verraten: mir jedenfalls sind noch weitere Lichter aufgegangen, was die historische Entwicklung der Demokratie und die Entstehung der Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, angeht. Und das Schöne ist, dass nicht nur einige Beispiele von sehr erfolgreichen Bürgerräten beschrieben, sondern auch die Probleme markiert werden. Außerdem skizziert er verschiedene Varianten, wie Volksabstimmungen und Bürgerräte als »plebiszitäre« Elemente (4) mit unserer bestehenden repräsentativen Demokratie kombiniert werden können.

Van Reybrouck selbst präferiert eine birepräsentative Form der Demokratie mit zwei »Kammern«: eine gewählt und eine gelost. Er macht aber auch deutlich, dass es gerade darauf ankäme, dass die Bürger eines Landes ihre Form der Demokratie entwickeln – und das geht selbstverständlich nur basisdemokratisch. Gerade wegen dieser Offenheit hat mich das Buch sehr angeregt und mir eine Fülle von Material geliefert, um mit Freunden und Bekannten und vor allem jungen Menschen über unsere Demokratie und Möglichkeiten ihrer Veränderung ins Gespräch zu kommen. Auch wenn für sie »der lange Marsch durch die Institutionen« eher nicht in Frage kommt, sind sie doch bereit, sich zu engagieren. Sie brauchen aber Anregungen und Beispiele dafür, wie sie etwas verändern und Verantwortung übernehmen können.

Anmerkungen:

1) Da dieser Aufsatz ja nur eine Anregung sein soll, gehe ich nicht auf die Details der Regelungen für Volksentscheide in Deutschland und auch nicht auf die Unterschiede zur Schweiz ein. Wichtig ist hier allerdings anzumerken, dass in Deutschland anders als in der Schweiz, wo es keine Verfassungsgerichte gibt, diese in Deutschland bisher Bürgerbegehren, die gezielt die Rechte von Minderheiten einschränken würden, verhindert haben.

2) Die Bürgerräte wurden von Mehr Demokratie e.V. in Kooperation mit Stiftungen und der Initiative »Es geht LOS« organisiert.

3) David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016.

4) Bürgerräte können z.B. auch von Parlamenten zu bestimmten Fragestellungen eingesetzt werden, sind also keine rein plebiszitären Einrichtungen.