Verirrte Sehnsucht. Warum Drogen so verführerisch und gefährlich sind

Thomas Schickler

Im ersten Jahrsiebt verfügen kleine Kinder über eine Art Willensdenken, im Gegensatz zum Denkwillen der Erwachsenen. Das bedeutet, dass sie über Nachahmung lernen. Sie folgen unbewusst allem, was in ihrer Umgebung willensmäßig geschieht.

Im zweiten Jahrsiebt entwickelt sich das Denken zunächst bildhaft und die Kinder und heranwachsenden Jugendlichen lernen über ihr Gefühlsleben. Wie erlebe ich die Welt? Gefühle der Sympathie und Antipathie, Freude und Leid, Ängstlichkeit und Mut erfüllen wie ein neuer Frühling ihr Seelenleben und regen zu vielfältigen Eigenaktivitäten an.

Staatliche Schulen stellen in dieser Entwicklungsphase immer noch denkerisches und gedächtnismäßiges Lernen in den Vordergrund. In dieser Altersstufe steht jedoch die seelische Vorreifung insgesamt und nicht nur die kognitive Entwicklung im Mittelpunkt. Das bedeutet, dass das neu erwachende Denken im elften, zwölften Lebensjahr über einen Reichtum an erlebnisgesättigten Gefühlen verankert werden will.

Inzwischen hat sich auch in der Schulpädagogik die Einsicht verbreitet, dass heranwachsende Jugendliche im zweiten Jahrsiebt ein lebenspraktisch-künstlerisches Fundament brauchen. Dass ein starkes Selbstbewusstsein in dieser Zeit nur über reichhaltige seelische Erlebnisse aufgebaut werden kann, wird jedoch in der Alltagspraxis immer wieder unterschätzt. Besonders während des Übergangs in die Pubertät, in der sechsten und siebten Klasse, kann man die elementare Frische, das unvoreingenommene und begeisterte Mitschwingen in den Erlebnissen wahrnehmen. Die Kinder und Jugendlichen identifizieren sich in dieser Altersstufe noch tiefgreifender und anhaltender, als wir es oft für angemessen empfinden, über die Stimmungen ihres Gefühlslebens.

Wirklich selbstständiges Urteilen ist erst älteren Teenagern möglich

Durch die Entwicklung des Denkens lassen wir unsere Kindheit hinter uns. Unser Urteilsvermögen ist im Alter von elf bis sechzehn Jahren stark subjektiv-gefühlsmäßig geprägt und noch nicht in der Lage, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen gleichzeitig zu erfassen. Untersuchungen ergaben, dass vollbewusste, selbstständige Urteile sich überhaupt erst in der Zeit zwischen siebzehn, achtzehn und einundzwanzig Jahren ausbilden, bei Mädchen etwas früher. Man kann feststellen, dass auch Zehntklässler in dieser Entwicklungsphase für bestimmte theoretische Urteile nicht reif sind, erst recht nicht für soziale Urteile, die Vorstufe von freien individuellen Urteilen. Ihr geistiges Einfühlungsvermögen in Menschen und Situationen kann in diesem Alter noch wenig differenziert sein. Entsprechend unsicher sind sie im selbstständigen Handeln.

Hilfe tut not

Wir Erwachsenen wirken nicht nur als Vorbilder, sondern wir sollten wenigstens annähernd Hilfestellungen geben können. So bieten Eltern Kindern und Jugendlichen äußerlich scheinbar gute und intakte Verhältnisse, ohne jedoch eine bevorstehende Sucht verhindern zu können. Stellen wir uns die vollkommen unterschiedlichen jungen Menschen vor, die Geheimnisse, die sie – ihnen selbst meist nicht bewusst – in sich tragen, scheint eine übergroße Herausforderung an uns gestellt. Schenken wir den uns Anvertrauten schon in der frühen Kindheit unser Interesse, bauen sich  Vertrauensverhältnisse auf, aus denen später  vielseitige Motivationen für eine kraftvolle und gesunde Willensentwicklung hervorgehen.

Frontalangriff auf das Gefühlsleben

Psychogene Drogen wie Alkohol, Cannabis, Marihuana, LSD, Ecstasy verändern unser natürliches Seelenleben. Es handelt sich um einen Frontalangriff, zunächst auf unser Gefühlsleben. Im Lauf der Zeit werden auch andere Seelenkräfte in diesen Sog mit hineingezogen. Dabei durchschauen Jugendliche kaum, was es bedeutet, dass sie ihre seelisch-geistige Konstitution Wirkungen unterwerfen, die durch die Verarbeitung der Drogeninhaltsstoffe, also von körperlichen Vorgängen bestimmt sind. Diese Wirkungen beziehen sich primär auf die Vergangenheit. Denn die vorhandenen Stoffe wurden bereits geschaffen. Sie sind das Ergebnis anderer energetischer Prozesse und anderer zeitlicher Vorgänge aus dem Leben der Natur. Wenn unser Körper (Stoffwechsel) diese Stoffe verarbeitet, werden deren Energien erneut frei gesetzt. Die unbewussten leiblichen und energetischen Vorgänge werden in einer verstärkten und verzerrten Weise in unser Bewusstsein gespült. Verzerrt, weil es sich um eine undurchschaubare Mischung unserer eigenen Anlagen mit denjenigen der spezifischen Drogenstoffe handelt. Leibliche Prozesse werden über­mäßig bewusst, was aus der Sicht unseres gesunden Seelenlebens ein Krankheitssymtom ist.

Wenn unser physischer Leib übermäßig unter dem Einfluss von Drogen steht, können Halluzinationen auftreten. Cannabis wird bereits zu den halluzinogenen Substanzen gerechnet, LSD enthält noch stärkere Wirkstoffe. Da bei bestimmten Wahrnehmungs- und Gefühlszuständen, zum Beispiel unter dem Einfluss von Cannabis, das Selbstbewusstsein und die formale Denktätigkeit weitgehend erhalten bleiben, gehen Jugendliche davon aus, der Konsum sei letztlich in Ordnung. Er ist es vor allem deshalb nicht, weil die Erlebnisse die auf diese Weise entstehen, nicht unsere eigenen sind.

Psychogene Drogen höhlen die Erlebnisfähigkeit aus

Unser Gefühlsleben bildet die Mitte unseres seelisch-geistigen Organismus. Die Denktätigkeiten liegen darüber, die Willenstätigkeiten darunter. Machen wir uns an dieser Stelle noch einmal bewusst, dass sich unser natürliches Gefühlsleben gleichsam wie ein Schmetterling in verschiedenen Zuständen der Luft (der rein seelischen Substanz) bewegt und entfaltet. Dieses feine Mitschwingen in Stimmungen und Gefühlen wird, besonders unter psychogenem Drogen­konsum, in den Bannkreis von leiblich bedingten Empfindungen gezogen. Im Lauf der Zeit entsteht eine Aushöhlung der seelischen Erlebnisfähigkeit. Die empfangende Seite wird auf Einflüsse festgelegt, die zwangsweise aus den spezifischen Drogenwirkstoffen hervorgehen.

Es gibt eine Schmetterlingsart, die im Lauf der Evolution vergröberte Flügel ausbildete, um nicht vom stürmischen Wind von einer Insel im Meer herunter geblasen zu werden. Umgekehrt könnte ein lang anhaltender Drogen­konsum unsere genetischen Anlagen in einer neuen Inkarnation derart beeinflussen, dass seelisch-geistige »Schmetterlingsflüge« nicht mehr in derselben Leichtigkeit wie vor dem Drogenkonsum in einem vergangenen Erdenleben möglich sind.

Drogen verstärken das Ego

Ein Drogenkonsument tauscht seine elementaren seelisch-geistigen Erlebnisqualitäten gegen relativ verstärkte, leiblich verwandte Empfindungen und Erlebnisse. Früher als man es wahrhaben will, macht sich auch unter Drogeneinfluss die Gewohnheit breit und die Erlebnisse verlieren die ersten Anflüge durchaus auch spiritueller Erfahrungen. – In den meisten Fällen beschäftigen sich Jugendliche kaum mit der bewussten Verarbeitung. – Das Freiheitsgefühl, die erste elementare Selbstwahrnehmung unseres seelisch-geistigen Gesamtzustandes verändert sich fundamental und wird durch einen entsprechenden Lebensstil bald vollständig verdrängt. Von nun an verstärkt jeglicher Drogenkonsum nur noch das gewöhnliche Ego in einer Weise, die nicht seinem individuellen Entwicklungsstand entspricht.

Jugendliche unter siebzehn, achtzehn Jahren sind sich nicht darüber im Klaren, in welchem Zusammenhang die durch Drogen für wahr genommene Wirklichkeit mit der ohne Drogen wahr genommenen Wirklichkeit steht. Auch welchen Einfluss der Drogenkonsum bei fortgesetzter Wiederholung auf ihre momentane Entwicklung nimmt. Dafür können sie zunächst nur bedingt verantwortlich gemacht werden.

Gesunde Bewusstseinserweiterungen

Stellt unsere Seele vor, können Visionen entstehen. Echte Visionen treten im Wachbewusstseinszustand auf. Es handelt sich meistens um mitgebrachte hellsichtige Bewusstseinsanlagen. Wenn in der heutigen Zeit Menschen von Visionen berichten, verfügen sie oft neben einem weit entwickelten normalen Bewusstsein (mit außergewöhnlich guten Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeiten), über einen Zugang zu höheren Bewusstseinszuständen, die unmittelbar an ihre bewussten Eigentätigkeiten gebunden sind. Stellt unser Geist vor, können Imaginationen entstehen. Die imaginative Erkenntnisebene (die erste Stufe von drei höheren Bewusstseinsebenen), wie sie zum Beispiel in Steiners Geistes- wissenschaft dargestellt wird, ermöglicht in einer entsprechenden modernen Weise, höhere Wahrnehmungen auf der ätherischen und seelischen Wirklichkeitsebene.

Gestalterisch arbeiten macht resistent

Im zweiten Jahrsiebt kommt es darauf an, das Interesse für jegliches gestalterische Tun zu wecken. Wie erwähnt, bilden vor allem die Willens- und Gefühlskräfte den Humus für die Gesamtentwicklung. Ebenso wie wir nur nach einem tiefen Schlaf, der eine unbewusste Beziehung zu unserem Willensleben hat, aus unseren Träumen, die eine unbewusste Beziehung zu unserem Gefühlsleben haben, erfrischt und gestärkt erwachen, ebenso wesentlich ist in diesem Alter die gesunde Entwicklung und Förderung des Willens- und Gefühlslebens des jugendlichen Menschen. Wenn wir die Willensentwicklung des ersten Jahrsiebts auf der seelischen Ebene im zweiten Jahrsiebt wiederholen und weiterentwickeln, festigt sich das Selbstbewusstsein nachhaltig. Es bildet das Fundament für das mehr denkerisch gefärbte dritte Jahrsiebt.

In der Michael-Schule Freiburg (Schule für Erziehungshilfe) können die Schüler außerhalb des Unterrichts handwerklich arbeiten, Sport treiben, unter professioneller Anleitung Bäume erklettern, an zahlreichen Ausflügen und Unternehmungen teilnehmen, haben Instrumentalunterricht, Orchester und Schauspielunterricht und engagieren sich in der Zirkusgruppe. Dazu kommt die therapeutische Arbeit in plastisch-bildnerischem Gestalten, Sprachgestaltung und Heileurythmie. Schließlich müssen auch noch einige Haustiere betreut und versorgt werden. Wenn Kinder und Jugendliche sich so entfalten können, verfügen sie auch im dritten Jahrsiebt über die nötige innere Substanz, von Einflüssen wie Fernseh- und Computerkonsum, Sexualität bis hin zu psychogenen Drogen nicht übermäßig abhängig zu werden. Wenn in einer elften Klasse (etwa fünfunddreißig Schüler) drei Viertel der Jugendlichen über Cannabiser­fahrungen verfügen, aber in späterer Zeit nur bei ein bis zwei Jugendlichen nachweisbar war, dass sie deswegen die Kurve nicht bekommen haben, könnte das ein Beleg dafür sein, dass die pädagogische Arbeit gut gelaufen ist.

Jugendliche wollen nicht erkennen, sondern erleben

Jugendliche werden heute bereits vor dem Übergang in das dritte Jahrsiebt mit Drogen konfrontiert. Machen wir es uns noch einmal bewusst: Sie wollen durch Drogenkonsum in der Regel weder etwas Bestimmtes erkennen, noch etwas Bestimmtes verwirklichen. Sie suchen Erlebnisse und bekommen auf diese Weise einen mühelosen Zugang.

Wenn die Entwicklung schon im zweiten Jahrsiebt allmählich aus den Bahnen gerät, weil individuelle Schwierigkeiten vorhanden sind oder weil Probleme in den Familienbe­ziehungen nicht erkannt werden, entsteht die Gefahr, dass Jugendliche sich im dritten Jahrsiebt immer mehr abnabeln. Ein solcher Verlauf ist typisch für eine mögliche Drogensucht, mit weitgehenden familiären und sozialen Folgen. Wenn es soweit gekommen ist, erfahren auch die Eltern noch einmal die ganze Wucht der Ereignisse. Sie sind jetzt vollkommen machtlos geworden und haben überhaupt keinen Einfluss mehr auf ihre Kinder. Bis diese selbst bemerken, in welches Fahrwasser sie geraten sind, aufhören wollen und auch ernsthaft Hilfe aufsuchen, kann die Familie eine Odyssee hinter sich haben. In Fällen, die auf den Beginn einer solchen Entwicklung hinweisen, ist es ratsam, möglichst schnell eine professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen.

Zum Autor: Thomas Schickler ist Heileurythmist und Heilpraktiker an der Michael-Schule Freiburg. 2009 Veröffentlichung des Buches: Reinkarnationserfahrungen Rudolf Steiners im Novalis-Verlag.