Waldorfpädagogik = Weltanschaulicher Totalitarismus«?

Christian Boettger

Jost Schieren stellte fest, dass die praktischen Erfolge der Waldorfpädagogik inzwischen durch zahlreiche empirische Untersuchungen, insbesondere von Dirk Randoll, hinreichend erwiesen seien. Gleichzeitig stehe sie unter hohem Beobachtungsdruck, da sich besonders pädagogisch gebildete und interessierte Eltern für Waldorfschulen entschieden.

Trotzdem – oder möglicherweise gerade deswegen – werden von einigen Kritikern wie Ehrenhard Skiera gravierende Vorwürfe gegen sie erhoben. Schieren zitierte: »Das ist weltanschaulicher Totalitarismus in reinster Form. Er hat die Tendenz, alles und jedes in seinen Bann zu ziehen und Kritiker abzuwehren. Er kennt, solange die Mission noch nicht erfüllt ist, Aufgeschlossenheit für anderes nur als Bereitschaft, andere Quellen dem eigenen Denken anzuverwandeln oder als Strategie einer allmählichen Vereinnahmung.« Ähnlich Heiner Ulrich: »Nach all dem kann man festhalten, dass die Anthroposophie bzw. anthroposophische Geisteswissenschaft den Generalschlüssel für das Verständnis von Programm und Praxis der gesamten Waldorfpädagogik liefert. Der Gründer der Anthroposophie und der bis heute für seine weltanschauliche Schülerschaft allein maßgebliche Führer ist Rudolf Steiner.«

Wie stellt sich die Waldorfpädagogik zu diesen Vorwürfen? Schieren führte aus: In den ersten Jahren der Waldorfschule, in denen Steiner die Lehrer immer wieder in Konferenzen und Vorträgen auf Fehlentwicklungen hingewiesen hat, sprach er interessanterweise nicht über mangelnde Grundlagen der Lehrer im Bereich der Anthroposophie, sondern bemängelte, dass die richtige Wahrnehmung für die Lernbedürfnisse der Kinder fehle. Die Kolleginnen und Kollegen der neuen Schule sollten sich an den Lernbedürfnissen des sich selbst erziehenden Kindes orientieren. Es komme darauf an, so Steiner, dass die Lehrer die Kinder genau wahrnehmen und eine tragfähige pädagogische Beziehung entwickeln.

Dagegen kritisierte er Neigungen mancher Lehrer, die Kinder zu »kleinen Anthroposophen« zu erziehen: »Und nach dieser Richtung war es ja natürlich notwendig, gerade für ein Schulwesen, das sich aus der Anthroposophie heraus entwickelt hat, darauf hinzuarbeiten, dass ... diese Waldorfschule ... weit davon entfernt sei, etwa eine Anthroposophenschule zu werden oder eine anthroposophische Schule zu sein. Das darf sie ganz gewiss nicht sein. Man möchte sagen: jeden Tag aufs neue strebt man wieder danach, … nicht ... durch den Übereifer eines Lehrers, oder durch die ehrliche Überzeugung … irgendwie in eine anthroposophische Einseitigkeit zu verfallen. Der Mensch – nicht der Mensch einer bestimmten Weltanschauung – muss in didaktisch-pädagogischer Beziehung einzig und allein für das Waldorfschul-Prinzip in Frage kommen«. Und an anderer Stelle: »Die Waldorfschule in Stuttgart, in der diese Pädagogik, diese Didaktik, zur Anwendung kommt, ist nichts von einer Sektenschule, nichts von einer dogmatischen Schule, nichts von dem, was die Welt gern eine Anthroposophenschule nennen möchte.«

Steiner wollte laut Schieren gerade keine absoluten Wahrheiten vermitteln, die es aus seiner Sicht ohnehin nicht gab, sondern »Erkenntnisanlässe« oder Wahrnehmungsangebote für die künftigen Lehrer. In seiner »Philosophie der Freiheit« beschreibe er, dass jede Wirklichkeitsbegegnung die Möglichkeit eines produktiven Erkennens biete. Dieses produktive Erkennen sei beweglich, initialisierend, holistisch, objektperspektivisch und reflektiere integrativ – im Gegensatz zu einem vorstellungsgebundenen Bewusstsein, das fixierend, finalisierend, partikularisierend, subjektperspektivisch und naiv realistisch sei. Schieren zitiert nochmals Steiner: »Phänomenologie, das ist das Ideal des

wissenschaftlichen Strebens, das in der Anthroposophie vorliegt.«

Wenn man die Kritiker aber ernst nehmen will, stellen sich laut Schieren folgende Aufgaben: Die terminologische Hermetik muss aufgebrochen und eine neue Sprache entdeckt werden; es sollte ein Klima der Transparenz und Diskussionsfreudigkeit herrschen und man müsse sich der Außen­kritik stellen; dazu gehören auch der Austausch mit staatlichen Instanzen und die Orientierung an staatlichen Abschlüssen, aber auch die Entwicklungsbeobachtung der Kinder und der Jugendlichen, die Schul- und Lehrplan­entwicklung, die Diskussion der Klassenlehrerzeit und schließlich die empirische Forschung und internationale Entwicklung.

Nach Schieren gibt es allerdings zwei weltanschaulich bedingte Besonderheiten der Waldorfschulen: zum einen die Annahme der Freiheitsfähigkeit des Menschen, zum anderen die Annahme, dass die uns umgebende Wirklichkeit durch unsere Erkenntnisfähigkeiten erschließbar und damit zugänglich ist. Diese weltanschauliche Ausrichtung der Waldorfpädagogik stellt sich bewusst dem Determinismus und Agnostizismus entgegen, die der heutigen Kultur, Wissenschaft und Bildung zugrunde liegen. – Es ließe sich hier ergänzen: Sind nicht beide Grundannahmen Gründe, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder an eine Waldorfschule zu schicken?

Zum Autor: Christian Boettger ist Geschäftsführer beim Bund der Freien Waldorfschulen und der Pädagogischen Forschungsstelle.