Warum lernen wir nicht von Finnland?

Susanne Becker: Welchen Leser hatten Sie für Ihr Buch vor Augen?

Anne Klein: Alle, die sich über eine Weichenstellung in unserer Gesellschaft Gedanken machen und sich verantwortlich fühlen für ein gutes Leben für alle. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch gerne Teil einer Gesellschaft ist, wenn man ihn oder sie nur lässt und willkommen heißt.

SB: Kernaussage des Buches ist, dass in Finnland kein Kind zurückgelassen wird. Ist das in Deutschland anders?

A.K.: Zentral ist der Unterschied, dass das System in Finnland die Funktion hat, die größtmögliche Gleichheit der Chancen für alle Kinder und Jugendlichen herzustellen. Es geht darum, dass Gleichheit und nicht Gerechtigkeit hergestellt wird. Das heißt, es ist ein Struktur-Prinzip und kein Vertrags-Prinzip. Es geht darum, dass der Staat etwas »anderes« gegen die Auswirkungen des Kapitalismus setzen muss, dass genau das seine Aufgabe ist, nämlich für die Wertschätzung und die Förderung der Potenziale aller Menschen, gerade in ihrer Unterschiedlichkeit, einzutreten. Es ist ein feministisch-sorgendes und kein normativ-kontrollierendes Verständnis.

Finnland und Deutschland werden in diesem Buch idealtypisch kontrastiert. Die Wirklichkeit ist sicher komplexer und auch in Finnland ist nicht alles Gold, was glänzt.

SB: Wieso setzen deutsche Schulen so stark auf Selektion und Leistungsdruck?

A.K.: Das liegt im System, das Zwänge ausübt. Müssen die Kinder ab der fünften Klasse in verschiedene Schulen »sortiert« werden, so entsteht unweigerlich schon in dem dritten Schuljahr Leistungsdruck. Als Kind hat man doch gar kein Verhältnis zu Noten, man ist qualitativ orientiert, möchte sich ausdrücken, die Welt kennenlernen.

SB: Ist Ihnen bewusst, dass die Schullandschaft in Finnland Parallelen zu Waldorfschulen aufweist? Und wo sehen Sie die Unterschiede?

A.K.: Ja, das ist mir bewusst. Ich arbeite mit einem Menschenbild, das auf die Ressourcen jedes Einzelnen setzt und versucht, diese zum Ausdruck zu bringen, Wissen zu vermitteln, aber nicht normativ zu sein, sondern eher im Sinne einer Aufklärung über sich selbst und die Welt. Ich denke, Finnland definiert diese Aufgabe primär demokratietheoretisch, die Anthroposophen eher anthropologisch.  Auch die Materialität der Lebensbedingungen ist wichtig. Man muss über Klassenfragen und Arbeitsbedingungen sprechen und kann den Menschen nicht davon losgelöst sehen, weil dies seinen Alltag bestimmt. Ich denke auch nicht, dass es damit getan ist, kleine Zonen aufzubauen – wobei ich nichts dagegen habe und es gut finde – aber ich denke, wir müssen einen generellen Bewusstseinswandel herbeiführen. Die Frage der Macht erscheint mir entscheidend.

SB: Ist die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems einer der Hauptgründe dafür, dass nicht alle die gleiche Chance auf Bildung haben?

A.K: Ja, das ist ein zentrales Merkmal. Hinzu kommt das ausgeprägte Sonder- und Förderschulwesen, was ja momentan durch die Inklusion verändert wird. Dabei muss man sehr gut auf die Arbeitsbedingungen achten. Es darf kein verhohlenes Sparprogramm dabei herauskommen, und es muss auch eine reflexiv-kritische Auseinandersetzung geführt werden über den Behinderungsbegriff.

SB: Gibt es in Finnland ein tieferes Verständnis davon, wie Menschen gut und glücklich leben können als in Deutschland? Denn ein gutes Leben fängt damit an, Kindern eine glückliche Schulzeit zu ermöglichen, oder?

A.K.: Doch, das ist sogar unsere Verantwortung als Erwachsene in einer Gesellschaft. Wobei ich für ein Verständnis von Glück plädiere, das unsere Stimmungen und Gefühle in all ihren Facetten zum Ausdruck kommen lässt. Gerade durch die Digitalisierung und das Internet sind ja neue Welten entstanden. In diesem Zusammenhang müssen wir neu verstehen, was die gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt sind. Es ist wichtig, sich der Tabubereiche und Geheimnisse unserer Gesellschaften anzunehmen. Zentral ist die Rahmung der Bildung, und diese muss sicher und selbstverständlich sein. Sie muss zeigen, dass alle erwünscht sind, und nicht mit Ausschlüssen Angst machen.

SB: Ist eine glückliche Schulzeit nicht im Grunde ein Garant für gutes Lernen? Und wenn dies zutrifft, müsste Deutschland dann nicht einen sehr tiefgreifenden Reformprozess antreten, der gar nicht nur die Schullandschaft betrifft?

A.K.: Ja klar, vielleicht sollte man das Recht glücklich zu sein, als Menschenrecht und als Aufgabe der Schule verankern.

SB: Im Grunde konstatieren Sie in Ihrem Buch, dass Deutschland nicht wirklich demokratisch ist, außerdem all jene bildungsmäßig ausschließt, die nicht in die Norm passen und so gesehen  in seiner Bildungspolitik rassistisch agiert. Kann man das so sagen? Ich wähle mit Absicht eine etwas plakative Ausdrucksweise.

A.K.: Ich glaube, dass wir hier in der Migrationsgesellschaft mittendrin sind und dass die jungen Menschen weiter sind, als wir denken.

Die Lehrer müssen sich mehr als Begleiter und Berater verstehen, denn als zensurgebende normative Instanz.

Eine meiner Freudinnen, die in Berlin-Kreuzberg unterrichtet, versucht vergeblich, ihrer Klasse den Unterschied zwischen Adjektiv und Adverb beizubringen. Die Kinder wissen jetzt schon, dass Sie später Hartz IV kriegen werden. Warum sollen sie sich anstrengen? Welche Zukunft sollen sie sich vorstellen? Welches Wissen brauchen sie? Welche Berufe, welche Tätigkeiten – außer Einkaufen und Fernsehen – sind ihnen vorstellbar? Wir fragen sie viel zu wenig. Wir sollten die Kinder viel mehr fragen, was sie brauchen, sich vorstellen. Stattdessen machen wir sie zu Objekten von Experten. Aber vielleicht wollen wir es gar nicht so genau wissen, was ihre Träume sind.

Susanne Becker hat das Buch »Niemand wird zurückgelassen« für die Erziehungskunst rezensiert.