Was die Jugend jetzt braucht

Tomáš Zdražil

Seine Schule hat zugemacht, Fitnessstudio, Fahrschule, Jugendzentrum, Sportverein, Kinos, Bars schnell danach auch. Die Kontakte zu den Freunden wurden erschwert oder ins Digitale verdrängt. Wollte er sich mit anderen auf einem Fußballspielplatz treffen, wurden sie von der Polizei weggescheucht. Die Schule hat dann den Online-Unterricht eingerichtet. Doch Leo konnte nur sehr schwer Anschluss finden – technisch und immer mehr auch psychisch bedingt. Es kamen Konzentrationsprobleme, Motivationsverlust, innerer Ausstieg. Leo ist überwiegend in seinem Zimmer wie in einer Zelle geblieben, dort hat er viele lange Nächte am PC verbracht, Tage durchgeschlafen. Dann kamen nach einem erholsamen Sommer zwei, vielleicht drei Monate Präsenzunterricht, jedoch sah seine Schule »wie ein Labyrinth mit Pfeilen auf dem Boden und Schildern an den Wänden« aus, die festlegten, wohin man laufen darf und wohin nicht usw. Trotzdem war es gut für ihn. Aber dann kam der Herbst 2020 und selbst der Bolzplatz wurde mit Flatterbändern abgeriegelt. Da wurde er dann wieder ins »League of Legends« am PC in eine virtuelle Welt, die Runeterra heißt, eingesaugt. Die Welt drehte sich für ihn im Kreis ... Konflikte mit den Eltern, Schlafprobleme, extreme Langeweile, Sinnlosigkeit, Wut, Übelkeit folgten. Schließlich hat Leonardo die Schule abgebrochen. Die Beziehungen zu den Eltern hat es schwer belastet. Sein Wunsch, ein ökologisches Jahr an der Nordsee zu verbringen, ließ sich nicht verwirklichen. Mangels Vorerfahrung fand er keine Jobs. Nach Wochen der Corona-bedingten Quarantäne, in der er sich um die schwer erkrankten Eltern kümmerte, hat er doch einen Job im Café der Mutter eines Freundes gefunden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer am vorläufigen Ende der traurigen Geschichte.

Leo steht für das Schicksal von Millionen Jugendlichen. In fast allen Ländern waren Kinder während der Corona-Zeit in irgendeiner Form von einem Lockdown betroffen. Im Durchschnitt haben sie seit dem Frühjahr 2020 184 Tage unter Schließungen und gesetzlichen Einschränkungen gelebt. In einkommensstarken Ländern wie Kanada mussten einige Kinder insgesamt 13 Monate (402 Tage) lang zu Hause zu bleiben. In Europa waren es im Durchschnitt neun Monate! In Indien verbrachten die Kinder teilweise 18 Monate zu Hause.

Vier von fünf Kindern und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Krise belastet. Fast jedes dritte Kind litt auch zehn Monate nach dem Beginn der Krise unter psychischen Auffälligkeiten. Sorgen und Ängste haben noch einmal zugenommen, auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden sind verstärkt zu beobachten. Zwölf Prozent der Kinder und Jugendlichen befanden sich 2019 aufgrund psychischer Erkrankungen in Behandlung. 2020 waren es nach dem ersten Halbjahr bereits rund acht Prozent mehr. Rechnet man die Daten hoch auf ganz Deutschland, kommt man auf 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche. Dabei sind in den Industrieländern bis zu 50 Prozent der psychischen Erkrankungen unbehandelt geblieben.

Zehnmal mehr Kinder als vor 2020 machen überhaupt keinen Sport mehr. Parallel dazu verbrachten im Winter 2021 die Kinder noch mehr Zeit als im Frühsommer 2020 an Handy, Tablet und Spielkonsole, wobei sie die digitalen Medien jetzt häufiger für die Schule nutzen. Nach dem ersten Lockdown erhöhte sich die Nutzungszeit bei den Jugendlichen um 75 Prozent auf 258 Minuten (mehr als 4 Stunden) täglich. Die Eltern fühlten sich durch Arbeitsplatzverlust und finanzielle Unsicherheit existenziell bedroht, von Homeoffice und 24-Stunden-Kinderbetreuung überlastet, auch bei ihnen zeigten sich vermehrt depressive Symptome. Es kommt zu einer gravierenden sozialen Spaltung: zwischen den »gut geschützten« Kindern aus Familien, die trotz allem einen guten Zusammenhalt aufrecht erhalten konnten und viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, und den »schutzlosen« Kindern aus Familien, die mit der Not-Situation nicht umgehen können. Insgesamt wurden Kinder mehr geschlagen, misshandelt, sexuell missbraucht und sogar getötet. Nach der EU-Strafverfolgungsbehörde stieg der Konsum von kinderpornographischen Videos und Bildern nur im Jahr 2020 um 30 Prozent an.

Es vergeht keine Woche, dass Pädagogen, Kinderärzte oder Organisationen – nicht die Politiker –, die im Namen des Kindeswohls tätig sind, zum Handeln aufrufen. Doch was nach wie vor fehlt, sind nachhaltige und mutige Ideen, wie das Handeln, das die Lage der Kinder und insbesondere der Jugendlichen verbessert, konkret aussehen soll.  Die Gesundheitskrise betrifft alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dabei müsste einfach das Wissen der modernen Gesundheitsforschung über Gesundheit und Wohlbefinden vergegenwärtigt werden. Alle, denen das Kindeswohl und die gesellschaftliche Zukunft ein Anliegen sind, müssen sich vor Augen führen, dass die Jugend heute insbesondere psychisch erfüllende, emotional sättigende, gemeinschaftsbildende, Sinn-stiftende Erlebnisse braucht.

Der vor einem Jahr verstorbene Kinderarzt Remo Largo wurde nicht müde, auf zwei zentrale Bildungsbereiche hinzuweisen, die für die Ausbildung einer gesunden Persönlichkeit unabdingbar sind: die menschliche Lebensgemeinschaft und die Natur. Bereits vor der Corona-Krise war Largo sehr besorgt, dass infolge der Digitalisierung diese zwei zentralen Elemente einer echten Bildung wegbrechen. Die letzten Monate haben seinem Plädoyer eindeutig Recht gegeben.

Die soziale Isolation und der Online-Unterricht trennen von der Lebenswelt und betonen die Einzelleistung. Ohne Begegnungen mit anderen Menschen entfremdet sich der Mensch von sich selbst und seine seelische Gesundheit wird geschwächt. Erst in der Interaktion mit anderen Menschen »atmet« seine Seele.

Die Phasen der Schulschließung haben gezeigt, wie schmerzhaft die Begegnung unter Gleichaltrigen vermisst wird. Durch die soziale Komponente des Lernens in der Gruppe erzielt man unvergleichlich bessere Ergebnisse. Ähnliches ist über ein lebendiges, positives Lehrer-Schüler-Verhältnis zu sagen.

Besonders intensiv müsste man sich für die Wiederaufnahme von Schüler- und Klassenkontakten im internationalen Maßstab einsetzen. Die neu errichteten äußeren und inneren Grenzen sind energisch aufzulösen. Die jungen Menschen bringen heute einen empathischen, kosmopolitischen Geist auf die Welt mit, sie wollen reisen und müssen uneingeschränkt reisen dürfen. Die Schulen sollten mehr als vor 2020 den Schüleraustausch fördern. Ähnliches wäre über soziale Praktika oder Sprachaufenthalte im Ausland zu sagen. Internationale Jugendtagungen sollten solche Begegnungen ermöglichen.

Die Jugend braucht Bewegung. Sportliche Betätigung, vor allem kollektive sportliche Betätigung, ist mit allen Mitteln zu unterstützen: dadurch entstehen Gemeinschaftserlebnisse, Erfolgs- und Gelingenserlebnisse, Stressabbau oder zumindest -reduzierung, von den zahlreichen positiven körperlichen Effekten ganz zu schweigen. Nach einer Zeit der Ohnmacht und all den Erlebnissen des passiven Ausgeliefert-Seins in der Corona-Krise ist es nötig, die Selbstwirksamkeit neu zu entdecken. Alles, was wir mit den Händen machen, wirkt in diesem Sinn. Praktische, aber vor allem auch künstlerische Übungen, Erfahrungen und Projekte sind Möglichkeiten, sich als aktives, kreatives Individuum zu erleben, das die Welt aktiv gestaltet. Tanzkurse, Musikveranstaltungen, Theateraufführungen lösen aus der Gefangenheit in sich selbst und erfüllen mit Freude. Was das Spielen in den früheren Jahren ist, ist später die Arbeit. In den Praktika erfahren die Schüler einen sinnvollen produktiven Arbeitszusammenhang, an dem viele Menschen beteiligt sind. Auch die Kunst ist ein Mittel, um seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Das kann durch den ganzen Leib geschehen, durch die Sprache in Rezitation und Gesang, im plastischen Medium, durch gezeichnete Linien oder in der Fülle gemalter Farben.

Es gibt kaum etwas, was unsere Seelen mehr ins Lot bringt, als die Erlebnisse in der Natur. Wandern oder Langlaufen in den Bergen, Campen mit Zelt und Feuerstelle, ökologische Projekte am Strand, im Wald, auf dem Acker oder anderswo, eine Fahrrad- oder Kanutour, eine Segelfahrt. Bei den Aufenthalten draußen kommt die Seele in Bewegung und in Schwung. Denken und Fühlen kommen in Fluss, die Sinne werden belebt und angeregt. Man kommuniziert anders. Neue soziale Erfahrungen werden gesammelt. Man begegnet den Elementen: Licht, Luft, Wasser, Schnee, Eis und Erde! Das Streicheln des Windes auf den Wangen, das Eintauchen der Hände in die Erde, das Schwimmen im Fluss, das Abtasten der Steine durch die Füße auf dem Wanderweg. Regelmäßige Klassenfahrten nicht nur jedes Jahr, sondern vielleicht sogar zweimal oder dreimal im Jahr.

Jede Schule kann jetzt mit der sogenannten Draußenschule (Outdoor-Education) experimentieren und vielleicht eine Waldklasse einrichten, in der sich zumindest die Unterstufenklassen an den verschiedenen Wochentagen abwechseln. Welche Unterrichte ließen sich nach draußen verlegen? Der Schulhof, der Schulgarten und das ganze Schulgelände könnten vielleicht neu betrachtet und ergriffen, gepflegt, gestaltet werden. Jeder Klassenlehrer oder -betreuer kann ein – und sei es noch so kleines – Projekt mit dem Gartenbaulehrer überlegen. Könnte nicht jede Schule einen Bauernhof »adoptieren«? Konzepte entwickeln, wie Familien, Klassen usw. kontinuierlich am Leben eines Bauernhofs teilnehmen, ihn unterstützen, Verantwortung für einen ausgewählten Bereich übernehmen? Die Zeiten des Forst- und Landwirtschaftspraktikums in der Oberstufe ausdehnen? Die Jugend braucht in jedem Fach und jedem Unterricht Momente, die Freude, Hoffnung und Sinn vermitteln. Kann man neue Fächer schaffen, in denen Zusammenhänge multiperspektivisch und interdisziplinär durch pädagogische Teams angeleitet entstehen werden? Insbesondere Fächer und Projekte wie z.B. Globalisierung oder Gesundheit von Mensch und Erde, die verschiedene Expertisen und Disziplinen vereinigen, könnten diese Maxime erfüllen. Nur die vom Schüler als begründet, nachvollziehbar und sinnvoll erlebten Unterrichtsangebote können ihn als Menschen berühren und verwandeln und machen aus dem bloßen Lernen echte Bildung.

Wir wissen im Umkehrschluss auch ziemlich genau, was die Jugend nicht braucht. Sie braucht kein bloßes Nachholen von Wissens- und Lerndefiziten und den damit verbundenen Schulstress, kein bulimisches schulisches Lernen für die Abschlussprüfungen, keine Ausweitung von Online-Unterrichtsformaten mit vermeintlich effizienten Tutorials und scheinbar personalisierten Lernplattformen. Die Jugendlichen brauchen Vorbilder, die die oben angedeuteten gesundheitsfördernden Qualitäten verstehen, schätzen und vorleben. An ihnen können sie sich orientieren. Wir haben die Zeit, in der ein unzulässiger Druck auf die Jugend ausgeübt wurde, nur zum Teil überwunden. Die Jugendlichen hoffen unausgesprochen, dass Qualitäten von individueller Besonnenheit, entschiedenem Mut und an Idealen orientiertem sozialem Engagement bei Erwachsenen wahrnehmbar werden. Es ist höchste Zeit, dass insbesondere die Kindertageseinrichtungen und Schulen wieder die Rolle eines stabilen, zuverlässigen sozialen Schutzraums einnehmen. Sie haben die gesellschaftliche Aufgabe, die Grundlage der Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu bilden, und zwar sowohl im Sozialen wie auch im Hinblick auf die Gesundheitsentwicklung. Durch die schulischen sozialen Beziehungen kann die Schule vor negativen psychischen Belastungen und teilweise auch physischen Defiziten schützen. Eine echte humanistische Bildung, die den Menschen sowohl im kognitiven wie auch im musischen, ästhetischen, motorischen, moralischen, ökologischen und sozialen Bereich fördert, leistet zugleich einen zentralen Beitrag zum Sinn-erfüllten Menschenleben und zur lebenslangen Gesundheit. Das Wohl und die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in körperlicher, seelischer und sozialer Hinsicht müssten höchste Relevanz im Handeln von allen Erwachsenen bekommen und zu höchsten Prioritäten und Kriterien von gezielten Aktionen und politischem Handeln werden.

Zum Autor: Dr. Tomáš Zdražil ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart.

Bearbeitete Fassung eines Artikels auf www.fondsgoetheanum.ch