Was ist das Schlimmste an der Schule?

Von Renate Valtin, April 2012

Was Schüler und Schülerinnen in der Schule leisten oder nicht leisten, haben internationale Studien vielfach untersucht. Doch was denken die Betroffenen, die Schülerinnen und Schüler, eigentlich über die Schule? In der großen DFG-finanzierten Längsschnittstudie Aida wurden über 3.000 Berliner Jugendliche der Klassen 7, 8 und 9 an staatlichen Schulen befragt. Die Antworten werfen ein trauriges Licht auf die deutsche Schule. Renate Valtin ist emeritierte Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin und Mitverfasserin der Studie.

Stress in der Schule liegt im System begründet

Fast alle beklagen sich heftig über Notendruck, nervige Lehrer, frühes Aufstehen, unbeliebte Fächer und den Raub kostbarer Lebens- und Freizeit. Bündelt man die Antworten, so ergibt sich eine klare Liste, angeführt von der Angst zu versagen, schlechte Noten zu bekommen, sitzen zu bleiben und den Schulabschluss nicht zu schaffen.

Sind diese Klagen nur Ausdruck einer »Null-Bock-Gene­ration«? Die Daten liefern dafür keine Belege, denn bei den Jugendlichen besteht eine hohe Wertschätzung der schulischen Leistung. Für etwa 90 Prozent von ihnen ist es wichtig, in der Schule erfolgreich zu sein, gut mitzukommen und gute Zensuren zu erreichen. Allerdings stehen die Jugendlichen unter großem Leistungsdruck – vor allem durch ihre Eltern: Fast 85 Prozent der Jugendlichen bejahen die Aussage: »Meine Eltern möchten, dass ich sehr (!) gute Noten nach Hause bringe.«

Gute Noten sind aber ein knappes Gut: Nur etwa ein Viertel der Jugendlichen erreicht in den sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern ein gut oder sehr gut. Und nur knapp zehn Prozent stehen in allen diesen Fächern auf Eins oder Zwei. Von Klasse 2 an, als die Studie begann, verschlechtern sich die Noten mit jedem Jahr, das heißt, die schulischen Leistungen werden zunehmend schlechter beurteilt. Zudem sind schlechte Noten sehr stabil.

Entsprechend hoch ist die Leistungsängstlichkeit der Jugendlichen. Mehr als jeder Dritte traut sich nicht, mit schlechten Noten nach Hause zu kommen, zumal elterliche Sanktionen drohen. Fast jeder Fünfte hat Angst davor, am nächsten Tag in die Schule zu gehen, und jeder Dritte macht sich abends im Bett oder auf dem Schulweg Sorgen wegen des Abschneidens in der Schule. Während es im internationalen Vergleich Schulsysteme gibt, die ohne Noten (wenngleich nicht ohne Leistungsbewertung) auskommen, besteht in Deutschland ein Zwang zur Zensurengebung, denn Noten müssen die zahlreichen Ausleseentscheidungen, die das selektive deutsche Schulsystem bereithält, legitimieren.

Tatsächlich haben Kinder und Jugendliche in Deutschland allen Grund, sich vor Noten zu fürchten. Schon laut Pisa 2000 waren fast ein Viertel der Heranwachsenden mindestens einmal »hängen« geblieben. Auch zehn Jahre später ist die hohe Zahl der Klassenwiederholungen im Sekundarstufenbereich nicht zurückgegangen, was angesichts der massiven Kritik an dieser Maßnahme zu erwarten gewesen wäre: Es gibt keinen empirischen Beleg, dass Jugendliche mit »verzögertem Durchlauf«, wie es im Pisa-Sprachgebrauch heißt, ihre Leistungen verbessern.

Zum Schlimmsten an Schule gehören aus Sicht der Jugendlichen auch die Lehrer. Die Jugendlichen beklagen autoritäres und extrem dirigistisches Lehrerverhalten, Tadel und Spott, Herabsetzung und Demütigung von Schülern. Von Klasse 7 bis 9 hat sich das Lehrerbild der Heranwachsenden deutlich verschlechtert: Nur noch rund fünf Prozent aller Schüler (gegenüber rund 25 Prozent in Klasse 7) geben an, von allen Lehrern gerecht behandelt zu werden, und nur noch 15 Prozent in Klasse 8 und zehn Prozent in Klasse 9 erleben ihre Lehrkräfte als verständnisvoll.

Es ist nachvollziehbar, dass die Lehrkräfte als Erziehungs- und Orientierungspersonen im Erleben der Jugendlichen in Klasse 8 und 9 an Bedeutung verlieren. Unabhängig davon hat aber auch die selektive Schule hier einen Einfluss. Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird vor allem durch den Zwang zur Notengebung belastet. Ein Hauptpunkt der Klagen der Jugendlichen besteht in der großen Abhängigkeit der Noten vom subjektiven Lehrerurteil. Viele schlecht benotete Jugendliche sehen sich als Opfer der Laune oder Willkür der Lehrer und empfinden Noten als Disziplinierungsmittel.

So Unrecht haben sie nicht. In repräsentativen Befragungen stimmen 50 Prozent der Lehrkräfte der Äußerung zu: »Noten sind notwendig, um Schüler zum Lernen anzuspornen.« Und 40 Prozent der Eltern sehen in Noten ein wichtiges Mittel zur Disziplinierung von Schülern. Noten erfreuen sich in der Öffentlichkeit großer Beliebtheit, obwohl ihre mangelnde Aussagekraft schon seit 40 Jahren belegt ist: Noten sagen wenig über die objektive Leistung eines Kindes aus, nur etwas über den Leistungsstand des Schülers innerhalb der Klasse.

Die Mehrzahl der Jugendlichen (fast 50 Prozent in Klasse 7 und über 60 Prozent in Klasse 9) sind der Meinung, dass keine oder nur wenige Lehrer wirklich daran interessiert sind, dass sie etwas lernen. Dass die Schüler sich in Deutschland von ihren Lehrern besonders schlecht unterstützt fühlen, hat auch Pisa gezeigt. Vor allem Jugendliche an Gymnasien beklagen dies. Aber auch die Grundschulstudie Iglu belegt, dass viele Lehrkräfte sich nicht für das schulische Versagen der Schüler verantwortlich fühlen. Sie denken, dass diese eben nicht in ihre Klasse passen.

Die Befunde zur Lehrer-Schüler-Beziehung sind sehr bedenklich. Soziale Stütz­systeme sind wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen. Je besser die soziale Beheimatung, desto günstiger die Ausbildung von Ich-Stärke und Leistungsvertrauen. Wie die Aida-Studie zeigt, haben die befragten Jugendlichen einen guten sozialen Rückhalt im Elternhaus und Freundeskreis. Über 80 Prozent er­leben eine hohe familiäre Geborgenheit. Ausgerechnet die soziale Ressource, welche die Schule bereitstellen kann, nämlich die Lehrerunterstützung, ist für die Jugendlichen die unsicherste. Dieses Ergebnis ist deshalb von Bedeutung, weil vom erlebten Lehrer­engagement ein signifikanter Einfluss auf die Entwicklung der Ich-Stärke und des Leistungsvertrauens der Jugendlichen ausgeht.

Ein Mentalitätswandel der Lehrkräfte, vom Aussortieren zur individuellen Förderung, wäre deshalb wünschenswert. Und er ist notwendig, wenn in Deutschland die UN-Konvention zur Inklusiven Bildung durchgesetzt werden soll.

Link: http://tinyurl.com/78qtdur

Kommentare

Michael Debus, 31.03.12 08:03

Das Ergebnis dieser Untersuchung ist erschreckend - aber leider nicht überraschend!

Die Gratwanderung, die WaldorflehrerInnen täglich vollführen müssen, wenn sie eine Pädagogik für den individuellen Menschen betreiben wollen und auf der einen Seite der Rachen des »wirklichen« Lebens und auf der anderen Seite die Prügel von Eltern und argwöhnischen KollegInnen drohen, erfordert ein hohes Maß an Überzeugung von der intuitiven Methode und von Selbstbewußtsein, um nicht ebenfalls in diese entwürdigenden Mahlsteine von Noten, Hausaufgaben, Strafen, Drohungen etc. abzugleiten.

Trotzdem sind diese auch an Waldorfschulen punktuell stattfindenden Entgleisungen nichts gegen den Alltag an einer Regelschule.

Als Schulbegleiter und als Vater habe ich in neuester Zeit Regelschulen (in SH)auch von innen kennengelernt.
Es sind katastrophal entwürdigende Zustände für die Kinder, die Eltern und (!) die Lehrkräfte!

Deshalb ist meine Frage:

An wen richtet sich Ihr Appell, liebe Frau Valtin? (den ich grundsätzlich nur unterstreichen kann)

An die SchülerInnen, die keine Befugnisse an der Schule haben?
(Schülervertretung und Schülermitverantwortung stehen auch auf Waldorfschulen oft nur auf dem Papier.)

An die Eltern, die schon mit der Hausfriedensbruch-auslösenden Hausaufgabenhilfe überfordert sind? Die froh sind, wenn sie ihre Kids mit dem neuesten iPod, der neuesten Spielkonsole von der Langeweile und Erniedrigung der Schule ablenken können.

An die handvoll engagierter LehrerInnen, die bei dem leisesten Verdacht des Abweichens vom kultusministeriell vorgeschriebenen Weg in die Mobbingfalle geraten?

Oder an die andere Gruppe der LehrerInnen, die - sich schon vor dem Studium ausrechnend, welche Freizeiten, finanziellen Bezüge und sonstige Beamtenvorteile dieser Job mit sich bringt - wohl wissen: wenn ich einmal da drin bin, kriegt mich keiner mehr raus, egal wie gut oder wie schlecht ich unterrichte.

An die Schulräte und Kultusminister, die ebenfalls im seltensten Fall an die Entwicklung einer kinderreifen Schule (Otto Herz hat diesen Begriff geprägt) denken? Und die niemals persönliche Verantwortung für ihre hoheitlichen Weisungen und Entscheidungen und deren Folgen übernehmen?

Wir haben in Deutschland ein durch und durch menschenunwürdiges Schulsystem, Zwangsanstalten, die alle modernen wissenschaftlichen Untersuchungen im Bereich Pädagogik, Medizin und Verhaltensforschung negieren und unterlaufen.

Ich weiß, ich male hier ein einseitiges schwarzes Bild.
Es gibt die anderen Schulen. Es gibt engagierte LehrerInnen, von denen manche auch ihre Achtung vor der Individualität der SchülerInnen praktizieren können.
Aber nur für eine bevorzugte Minderheit.

Überwiegend werden im besten Fall an den deutschen Schulen hoffentlich nicht nur Resignierer, Amokläufer und einige wenige Ellbogen-Aufsteiger erzogen sondern vielleicht auch Widerständler für einen erfrischenden Schul-Frühling.
Darauf müssen wir aber nicht warten. Jedes Kind hat nur eine Schulzeit.

Solange Parteien dafür zuständig sind, müssen wir denen auf den Zahn fühlen, damit sie nicht nur Schulformen und Finanzen hin und her schieben sondern ein freies Schulsystem verfechten, in dem LehrerInnen, Schulräte und Kultusminister Noten und Beurteilungen für ihre Arbeit bekommen - und auch den Laufpass, wenn sie für die Arbeit nicht geeignet sind!
Einer der genialsten Aussprüche unseres großen Meisters und Pädagogen ist:

»Wenn Sie einem Schüler eine schlechte Note geben, müssen Sie sich selber auch eine schlechte Note geben, denn Sie sind ja schließlich als Pädagoge für seine Leistungen verantwortlich.«

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