Was macht das Smartphone in unserer Hosentasche?

Christoph Rudolf

Der Lehrer las damals aus einem Buch vor und die Schüler mussten zu Hause das Vorgelesene nachbereiten. Steiner, der sich gerade Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« gekauft hatte, wusste sich allerdings zu helfen: »Ich trennte nun die einzelnen Bogen des Kantbüchleins auseinander, heftete sie in das Geschichtsbuch ein, das ich in der Unterrichtsstunde vor mir liegen hatte, und las nun Kant, während vom Katheder herunter die Geschichte gelehrt wurde« (aus: Mein Lebensgang, 2. Kap., GA 28).

Wenn meine Schüler im Geschichtsunterricht heimlich lesen, dann treibt sie selten philosophisches Interesse um. Meistens sind es soziale Netzwerke, die ihre Aufmerksamkeit gefangen halten, und ich habe den Verdacht, dass die meisten Mitteilungen, die dabei auf dem Smartphone gelesen und geschrieben werden, keine bleibende geistesgeschichtliche Relevanz besitzen.

Den meisten Menschen ist klar, dass Smartphones, die nicht ausgeschaltet in der Schultasche liegen, den Unterricht stören, weil die Versuchung, das Gerät in die Hand zu nehmen, sehr groß ist. Was den meisten Menschen dagegen nicht klar sein wird, ist die Tatsache, dass selbst ein ausgeschaltetes Smartphone die intellektuelle Leistungsfähigkeit seines Besitzers beeinträchtigen kann. In einer US-amerikanischen Studie von 2017 wurden Studenten in drei Gruppen geteilt und sollten verschiedene Denk- und Lernaufgaben lösen. Die erste Gruppe hatte ihr ausgeschaltetes Smartphone dabei auf dem Tisch vor sich liegen; die zweite Gruppe hatte es in einem Rucksack oder in der Hosentasche und die dritte Gruppe musste es außerhalb des Testraumes lassen. Das Ergebnis war eindeutig. Am schlechtesten schnitten die Studenten ab, die ihr Handy auf dem Tisch liegen hatten, am besten die, deren Smartphones sich im anderen Raum befanden. Auf den ersten Blick mag das ein irritierender Befund sein. Wie kann ein Smartphone stören, wenn es einfach nur ausgeschaltet daliegt?

Die Design-Ideologie des Silicon Valley

Das Smartphone ist ein Gerät, das durch mobiles Internet und Fotokamera unsere Kultur sehr stark verändert hat. Für die meisten erwachsenen Menschen ist es ein nützliches Universalwerkzeug. Ein normales Werkzeug (wie etwa ein Hammer oder ein Taschenmesser) ist ein Smartphone allerdings keineswegs, wie der Ulmer Molekularpsychologe Christian Montag in seiner Schrift »Homo Digitalis« deutlich macht: Das merke man vor allem dann, wenn man in bestimmten Situationen immer wieder das Smartphone aus der Tasche ziehe, wie beispielsweise an einer Bushaltestelle, um sich dadurch die Wartezeit zu vertreiben. Wiederhole sich dieser Vorgang häufig genug, habe man eine Gewohnheit etabliert. Der Hinweisreiz Haltestelle reiche dann aus, um das Smartphone automatisch, ohne konkrete Ursache aus der Tasche zu ziehen.

Der Grund dafür, dass wir unser Smartphone immer wieder gerne aktivieren, liegt aber nicht nur in einer solchen Konditionierung, sondern auch im Design der Software. Denn nicht nur Wissenschaftler interessieren sich dafür, wie Smartphones unser Verhalten beeinflussen, auch die IT-Branche beschäftigt sich intensiv mit dieser Frage. Ziel der Unternehmen ist es, menschliche Eigenschaften wie Neugierde, Spieltrieb und das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung auszunutzen, damit wir möglichst viel Zeit mit ihren Produkten verbringen. Deshalb werden auf Websites und in Apps sogenannte Dark Patterns (dunkle Muster) programmiert. Darunter versteht man Designentscheidungen, welche die Nutzer unbewusst zu bestimmten Aktionen verleiten sollen. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die Like-Funktion. Mit einem Like kann man durch einen Klick sein Wohlwollen gegenüber einem Beitrag in einem sozialen Netzwerk bekunden. Menschen springen auf Likes an, weil sie unserem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit Rechnung tragen. Manche Plattformen halten deshalb die Likes zurück und machen sie erst nach und nach über einen längeren Zeitraum hinweg sichtbar, damit die Nutzer die App möglichst oft öffnen.

Aber es sind nicht nur die offensichtlichen Merkmale einer App, die die Aufmerksamkeit der Nutzer fesseln sollen. Selbst der harmlos erscheinende kleine rote Punkt an der rechten oberen Ecke einer App, der uns eine neue Aktivität (z.B. den Erhalt einer WhatsApp-Nachricht) anzeigt, ist farblich mit Bedacht gewählt. Ursprünglich soll dieses Symbol bei der Facebook-App nämlich blau gewesen sein. Nach einer Testphase haben sich die Entwickler aber für rot entschieden, weil dadurch die Aufmerksamkeit der Benutzer stärker auf die App gelenkt wird. Selbst der 2009 erfundene pull-to-refresh-Mechanismus, bei dem sich der Inhalt einer App durch einfaches Nachuntenwischen aktualisiert, ist mehr als nur eine nette Erfindung, denn er soll den menschlichen Spieltrieb ansprechen und dadurch die Verweildauer in der App erhöhen.

Ein wichtiges Dark Pattern bei Videoplattformen und Streamingdiensten ist die Autoplay-Funktion, die bei der Google-Tochter Youtube zu den Voreinstellungen gehört. Diese Funktion hat zur Folge, dass die Filme der Vorschlagsliste automatisch nacheinander ablaufen. Der Algorithmus, der diese Liste zusammenstellt, folgt einem einfachen Prinzip: maximale Nutzungsdauer. Youtube setzt darauf, dass die Nutzer eher auf der Plattform bleiben, wenn die Inhalte besonders aufregend und polarisierend sind. Es ist die menschliche Neugierde und Freude an Sensationen, die hier angesprochen werden sollen. Filme mit extremen oder aufregenden Inhalten sind in der Auswahl für die Vorschlagsliste deshalb eindeutig im Vorteil und werden aus diesem Grund durch den Algorithmus favorisiert. Das an sich ist schon kein sehr schöner Befund. Wenn man dann aber in der JIM-Studie von 2018 lesen kann, dass Youtube das beliebteste Internetangebot bei Jugendlichen ist und die Mehrheit das Portal auch dazu nutzt, um sich über die Welt zu informieren, wird deutlich, dass die Autoplay-Funktion unter Umständen eine politische Dimension erhalten kann.

Das Smartphone als Skinner-Box

Aktiviert werden soll durch diese Dark Patterns unser neuronales Belohnungssystem. Es handelt sich dabei um den Teil des menschlichen Gehirns, der mit Emotionen, Trieben und Suchtverhalten in Zusammenhang gebracht wird. Entdeckt wurde das interne Belohnungssystem 1954 auf sehr unschöne Weise durch die beiden Amerikaner Peter Milner und James Olds.

Die Forscher setzten Ratten in einen Käfig für Konditionierungsversuche, eine sogenannte Skinner-Box. Mit einem Hebel konnten die Tiere eine implantierte Elektrode aktivieren und dadurch das Gehirnareal stimulieren, das heute für Belohnung und Sucht verantwortlich gemacht wird. Die Möglichkeit, das Belohnungs- und Suchtzentrum zu aktivieren, ließ einige Tiere ihre angeborenen Instinkte vollkommen vergessen. Die Laborratten nahmen dafür große Schmerzen in Kauf und verzichteten auf Fortpflanzung. Manche Tiere betätigten den Hebel bis zur völligen Erschöpfung, weil sie durch den angenehmen Stimulus vergaßen, Nahrung aufzunehmen.

Der Mensch besteht aus mehr als seinem Gehirn und sein Handeln lässt sich nicht auf neuronale Vorgänge reduzieren. Aber die Stimulierung des Belohnungssystems hat Auswirkungen auf das Verhalten und schränkt die Impulskontrolle ein. Bei der Nutzung einer App wie Whats­App oder Facebook wird der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt und es stellen sich Glücksgefühle ein. Dabei muss es nicht einmal um so offensichtliche Belohnungen wie Likes gehen. Allein schon die Aufmerksamkeit anderer Menschen, von der uns das kurze Aufblinken einer Push-Nachricht auf dem Display kündet, aktiviert das Belohnungssystem. Das Smartphone wird dadurch zu einem Objekt, das wir mit positiven Erwartungen und Erfahrungen in Verbindung bringen. Aus diesem Grund wird es von Schülern immer wieder gerne aktiviert und deshalb können selbst ausgeschaltete Smartphones in der Hosentasche die Konzentrationsfähigkeit ihres Besitzers beeinträchtigen.

Wir leben in einer Welt, in der das digitale Medium fester Bestandteil unserer Lebenswirklichkeit ist und in meinem Unterricht spiegelt sich diese Entwicklung wider. Der Gedanke, dass Schüler ihr Smartphone in der Schule ausschalten oder gar nicht erst mitbringen, steht dazu nicht im Widerspruch. Über Melanie und Bill Gates wird berichtet, dass ihre Kinder erst mit 14 Jahren ein Handy bekommen haben und auch dann soll es noch streng regulierte Nutzungszeiten gegeben haben. Damit ist die Familie des Microsoft-Gründers im Silicon Valley nicht allein.

2011 berichtete die New York Times, dass sich die Waldorfschule in Los Altos gerade wegen ihrer kritischen Einstellung gegenüber digitalen Medien im Unterricht der Unter- und Mittelstufe großer Beliebtheit unter den Mitarbeitern der Technologiebranche erfreut.

Zum Autor: Christoph Rudolf ist Geschichts- und Kunstgeschichtslehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart

Literatur: JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-jähriger, hrsg. v. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, Stuttgart 2018; P. Lewis: Our minds can be hijacked: the tech insiders who fear a smartphone dystopia, The Guardian, 06.10.2017 https://t1p.de/smartphone-hijack (31.12.2018); Chr. Montag: Homo Digitalis. Smartphones, Soziale Netzwerke und das Gehirn, Wiesbaden 2018; A. F. Ward (et al.): Brain Drain: The Mere Presence of One’s Own Smartphone Reduces Available Cognitive Capacity, in: Journal of the Association for Consumer Research (JACR) 2/2 (2017), S. 140-154