Wir leben in einer überwachten Gesellschaft

Uwe Buermann

Gesetzt, das Mädchen begeht einen einzigen Tippfehler – und sendet das Bild statt an den Freund an ihren Karnevalsverein … Den Rest kann man sich denken, oder? – Nein, eben nicht so ganz: Zwar ist klar, dass sich das Mädchen nun nirgends mehr blicken lassen kann, ohne auf eine gewisse Art angeschaut zu werden. Denn die WhatsApp-Gruppe Karnevalsverein ist ja wieder durch Einzelne mit unzähligen anderen Gruppen vernetzt, und schneller, als dies je zuvor möglich war, ist solch ein Bild durch wenige Klicks an weitere Personen und eben auch ganze Gruppen weitergeleitet; manche Leute werden das Bild immer wieder und wieder zugesandt bekommen.

Also nicht nur an der eigenen Schule ist das Foto »rum«, sondern auch an den Schulen im Umkreis, und zwar bei Schülern und Lehrern und auch vielen Eltern. Denn alle nutzen das wunderbar praktische WhatsApp!

Aber nicht genug damit: Die Mutter eines minderjährigen Jungen aus dem Karnevalsverein, die öfter mal dessen Smartphone durchcheckt, findet nun dieses Foto, das unter einem WhatsApp-Pseudonym versandt wurde. Sie kennt die Dreizehnjährige vom Sehen her nicht und muss irgendeine unanständige Machenschaft vermuten, geht daher zur Polizei. Und nun muss man Folgendes wissen: Wenn unter Sechzehnjährige nackt fotografiert werden, gilt das als Kinderpornographie. Zwischen 16 und 18 ist der erotische Akt erlaubt (das sind dann die »Bravo«-Fotos), nicht aber die Abbildung von Geschlechtsverkehr. Das Verbreiten von Kinderpornographie ist aber wiederum strafbar. Was also die Dreizehnjährige mit ihrem harmlosen Nackedei-Selfie anrichtete, war der Strafbestand: Verbreitung von Kinderpornographie! Doch auch damit noch nicht genug. Wir müssen uns klarmachen, dass eine SIM-Karte, wie sie in jedem Handy und Smartphone benötigt wird, erst ab 16 vertraglich genutzt werden kann; sonst haften die gesetzlichen Vertreter. Bei wem also taucht die Polizei auf, um ihn wegen des Verbreitens von Kinderpornographie zu verhaften? Beim Vater, einem gewissenhaften Sozialarbeiter, der seine liebe Mühe hat, dem Arbeitgeber den Vorfall, der sich freilich schnell aufklärt, so darzustellen, dass auch wirklich kein Makel zurückbleibt.

Gewiss ist dies eine extreme Geschichte. Aber sie macht zweierlei deutlich: Sobald wir mit unserem Computer oder Smartphone etwas versenden, befinden wir uns im Internet. Das Internet aber ist ein öffentlicher Raum, der einerseits bis in den letzten Winkel überwacht wird und für den andererseits die Gesetze gelten, die für die Öffentlichkeit formuliert sind.

Natürlich kann man nun einwenden, das gelte ja doch wohl nur für das, was dann auch öffentlich empfangen wird, und nicht für das private Gespräch von Sender zu Empfänger via Netz. Das ist zunächst zwar richtig, aber da dürfen wir uns keine Illusionen über den Grad der Überwachung und Speicherung machen, die heute selbstverständlich sind.

Wir müssen uns klarmachen, dass schlichtweg jeder Klick, den wir machen, und jedes Wort, das wir über solche Medien äußern, gespeichert werden. Es sind unsere heiligen Kühe, unsere – vermeintliche – Privatsphäre, die in Frage gestellt werden. Es fällt auch vielen Erwachsenen schwer, daraufhin Gewohnheiten zu ändern. Nutzen Sie Mozilla Firefox und ändern Sie die Startseite von Google auf ixquick.de oder DuckDuckGo.com um, wählen Sie bei den Einstellungen diejenige, die nach jeder Sitzung alle Cookies automatisch löscht.

Geben Sie mal das Stichwort »Handystrahlung« ein, einmal bei Google und einmal bei DuckDuckGo.

Da finden Sie sehr unterschiedliche Einträge; manche Seiten, die von den wissenschaftlich nachgewiesenen gesundheitlichen Schäden durch Handystrahlung berichten, findet man bei Google gar nicht.

Kritiker sagen, Google decke nur etwa 40 Prozent des gesamten Internets ab, andere sagen 80 Prozent; die Wahrheit dürfte wohl irgendwo dazwischen liegen. Auch dies ist etwas, das man sich klarmachen sollte.

Im Netz ist jeder erkennbar

Aber nicht nur solche Selektion, sondern auch umgekehrt, wie das Netz auf uns zurückwirkt, ist relevant. Wir kennen das längst, dass wir, wenn wir einmal nach einem bestimmten Produkt gesucht oder es gar über das Netz erworben haben, bald ähnliche Produkte angeboten bekommen. Nur wir, das heißt der Computer, das Smartphone, von dem aus wir surfen. Individualisierte Werbung nennt man das; es ist dies inzwischen schon etwas älter.

Neuer ist vielleicht, dass Preise unterschiedlich dargestellt werden. Nicht bei preisgebundenen Büchern oder Ähnlichem, aber zum Beispiel bei Billigfluggesellschaften: Suchen wir Preise für eine Route quer durch Europa von einem teuren Smartphone oder alternativ von einem abgenudelten Uraltlaptop aus, kann es vorkommen, dass sich Differenzen von mehreren hundert Euro ergeben! Auch unser monat­licher Verdienst kann bei den Angeboten, die wir erhalten, und den Preisen, die dafür zu zahlen wären, eine einkalkulierte Rolle spielen.

Mehr noch: Aus unserem Surfverhalten kann auf unsere seelische Verfassung geschlossen werden. Sind wir seelisch stabil, nützt alle Werbung nichts; sind wir instabil, haben Verführungen zu Frustkäufen leichtes Spiel. Der nächste Schritt ist dann, die gewünschten seelischen Zustände nicht nur passiv abzulesen, sondern aktiv herbeizuführen: Auch dafür gibt es Tricks; auch daran wird gearbeitet. Man darf das nur nicht missverstehen: Da sitzt kein personeller Big Brother und nicht einmal ein Team von »Stasileuten«, die das alles ausspionieren, sondern es sind rein kombinatorische Kunststücke, bloße Algorithmen, die dies »mechanisch« kombinatorisch durchspielen und ineinanderfügen. Es ist keine Intelligenz, sondern reines Roboterwesen, welches unsere Daten speichert, durchrattert und auf von uns intelligent programmierte Weise einander zuordnet, bis schließlich ganze »Soziogramme« jedes einzelnen Internetnutzers und seiner Beziehungen zu anderen Menschen und Menschengruppen entstehen.

Konnte man früher noch sagen, diese Daten würden auf IP-Adressen, also auf einzelne Computerstützpunkte bezogen und Überwachungsversuche seien entsprechend über den Wechsel der IP-Adresse zu umgehen, so sind diese »guten alten« Zeiten nun wohl endgültig vorbei.

Bei den immer üblicheren schnellen Übertragungsfähigkeiten gilt das Gesagte; dort hat jeder Nutzer eine eindeutig identifizierbare Tipp-»Handschrift«, so dass er sich verbergen kann, soviel er will; nach kurzem Tippen ist jeder von uns auf jedem Rechner der Welt wiedererkennbar. Und jeder Klick, den einer im Netz macht, jeder Scroll und seine Geschwindigkeit und Verweildauer, aus denen ja wiederum Rückschlüsse auf das Interesse des Scrollenden gezogen werden können, wird registriert, zugeordnet und ausgewertet.

Dies ist keine schlechte Verschwörungstheorie, sondern eine gute, das heißt, logisch stimmige: Google befragt nämlich tatsächlich jeden Nutzer nach bis zu 15.000 Kriterien, das heißt Alter, Geschlecht, Größe, Musikgeschmack, Lieblingsessen und 14.995 weiteren Kriterien. Kein Mensch könnte diese Datenmenge je verarbeiten; eine Maschine indessen schon. Die Maschine weiß nicht, was sie tut, aber sie tut es. Sie kombiniert Daten miteinander, zieht logische Schlussfolgerungen, wie man sie ihr beigebracht hat, stellt sie dar und lässt sie wirken, weiter nichts. Sie schaltet, so wie wir sie programmiert haben, Konsequenzen weiter, ohne zu wissen, was sie damit tut.

Kein Mensch kann das alles noch auf seine Richtigkeit hin überprüfen, sondern die Resultate werden gespeichert und tauchen bei dem auf, dem Google gehört, dem Facebook gehört und bei denen, an die diese Unternehmen die Daten weiterverkaufen.

Die NSA kann mit diesen Datenmassen kaum konkurrieren; 65 Prozent aller Spionage ist heute tatsächlich Wirtschaftsspionage – aber natürlich hängen wirtschaftliche und politische Überwachung und Spionage eng zusammen; Geopolitik und TTIP und Co sind Impulse eines großen Zuges, der da durch unsere Welt geht und bei uns Menschen den Radius an individueller Gestaltungsmöglichkeit immer enger zu ziehen versucht.

Wem all dies übertrieben anmutet, der reibe sich nur einmal gründlich die Augen und stelle dann womöglich fest, dass das alles wirklich so ist. Wir leben heute in einer Überwachungsgesellschaft; der öffentliche Raum, in dem wir agieren, ist ein weitestgehend überwachter Raum.

Es braucht heute keine Science Fiction mehr, um uns vor ungeheure Menschheits-Perspektiven zu stellen, denn, um es mit einem Buchtitel von Robert Jungk aus dem Jahr 1952 zu sagen: »Die Zukunft hat schon begonnen.«

Anmerkung: Der Medienwissenschaftler Uwe Buermann war im November 2015 an der Waldorfschule in Sorsum zu Gast. Jens Göken, ehemaliger Schülervater, Schulbibliothekar und »allgemein ansprechbare Geistesleben-Instanz« an der Freien Waldorfschule Sorsum, fasste Buermanns Vorträge hier zusammen.