Wir sind nur die Anderen in der Fremde. Eine Reise nach Vietnam

Valentin Hacken

»Wo bist Du?«, schreibe ich L. – große Reisen brauchen keine langen Fragen. Ich stehe vor dem Flughafen von Ho-Chi-Minh-Stadt. Mehrere hundert Vietnamesen schauen mir entgegen, wie ich das Terminal verlasse. Ich bin groß, fast zwei Meter und habe auch für einen Deutschen eine sehr weiße Haut. Es bleibt ein Rätsel, für wen das Empfangskomitee da steht. L. hat meine SMS bekommen und holt mich ab. Unser Taxi quält sich mühsam durch den Verkehr. Mopeds und Fahrräder sind die wichtigsten Verkehrsmittel. Außer Taxis sieht man kaum Autos auf den Straßen, hohe Importzölle machen sie auch für die wohlhabenderen Vietnamesen kaum erschwinglich und in den übervollen Straßen ist mit ihnen fast kein Durchkommen.

Neben der Hitze ist der erste vehemente Eindruck: Masse. Überall Menschen, tausende Menschen. Die Stadt hat mehr als doppelt so viele in der offiziellen Statistik erfasste Bewohner als Berlin und sie scheinen sich alle mit Mopeds zu bewegen, nicht chaotisch, aber nach eigenwilligen Regeln. In Kreisverkehren werden gerade Strecken gefahren, es wird kurz gestoppt wenn ein anderer Schwarm kreuzt und dann wieder die nächste Linie gezogen. Ein Meer aus Menschen mit Mundschutz, Helm und erstaunlich viel Kleidung. Nach meinem ersten Sonnenstich werde ich verstehen, warum.

Vietnam, das ist eine sozialistische Republik, ein Einparteienstaat mit Zensur, Todesstrafe und politischer Repression, ein Land mit faszinierender Kultur und wunderschönen Landschaften. Seit der Reformpolitik »Doi moi« (Erneuerung) geht es auch wirtschaftlich aufwärts an der Werkbank verschiedenster internationaler Firmen. In dieser Gleichzeitigkeit arbeitet L. für ein Jahr. Er ist Freiwilliger des Programms »Weltwärts« im Goethe-Institut von Ho-Chi-Minh-Stadt, der deutschen Auslandskulturvertretung, die hier mit einer Sprachenschule auftritt und ihren kulturellen Schwerpunkt in der Hauptstadt Hanoi hat. Ich werde Jugendliche aus aller Welt treffen, Freiwillige und Backpacker, vietnamesische Studenten und Sprachschüler.

Schweizer Uhren im Laden und Sozialismus auf den Plakaten

An meinem dritten Tag habe ich mich an die Hitze gewöhnt. L. und ich fahren auf die »Le Loi«, eine Straße, die ihren Namen der Kolonialzeit verdankt. In einer Seitenstraße mieten wir ein Moped. Ich werfe mich in den Verkehr – zur Begeisterung der Vietnamesen. Es gibt zwar Busse, eine U-Bahn ist in Bau, wer aber wirklich irgendwo ankommen will, kann sich darauf nicht verlassen. Einhändig steuere ich durch das Gewusel, in der einen Hand das iPhone mit Google-Maps und mit der anderen bemüht, Kurs zu halten. Tagelang kann man durch Ho-Chi-Minh-Stadt fahren und sich verlieren, im historischen Saigon finden sich Boulevards, Gucci, Prada und teuerste Hotels, wenig später explodieren die Farben im Durcheinander enger Gassen und kleiner Märkte, jede Straße gesäumt von ebenerdigen Geschäften. Auf jedem freien Meter sitzt oder steht jemand mit seinem kleinen Stand. Ein Mittagessen kostet zwanzig Cent und

vietnamesische Zigaretten sind für ein Viertel zu haben, Koks und Gras finden ungeachtet der Todesstrafe in den Touristenvierteln ihre Käufer und Prostituierte ihre Freier. Irgendwann lande ich im funkelnden Vincom Center. Stockwerk über Stockwerk der pure Kapitalismus. Geschäfte leisten sich Personal, das den Kunden die Türen aufhält. Französische Backwaren, Schweizer Uhren und deutsche Kinderschokolade sind hier nur ein paar hundert Meter entfernt von den Plakaten der Partei, die in ihrer Optik an längst vergangene Zeiten erinnern. Farbenfroh blickt darauf der sozialistische Arbeiter schräg nach oben und die bewaffnete Kämpferin in eine glutrote Zukunft. Die Parkplatzwächterin ist offensichtlich von den beworbenen Erfolgen der Wirtschaftspläne nicht überzeugt, fragt mich nach meiner Nationalität und dann, ob ich sie heiraten wolle. Ich will nicht, aber sie gibt mir ihre Handynummer mit – falls ich einen deutschen Mann kenne, der eine Frau sucht, soll ich anrufen.

Freizeit gibt es nicht

L. bläst in der Zeit Ostereier mit den vietnamesischen Sprachschülern aus, die ich immer zu jung schätze und die später die Eier bemalen und vom Valentinstag in Vietnam erzählen werden; Hollywood hat es mal wieder geschafft. Mit meiner Frage nach Freizeit können sie trotzdem wenig anfangen, obwohl sie sich als Teil der reicheren Schichten genau das leisten können – denn Freizeitangebote kosten hier – noch mehr als in Deutschland – immer Geld. Aber Zeit wird in der Familie verbracht, in der gelebt wird bis zur Hochzeit. Ansonsten wird gearbeitet oder gelernt – nach 23 Uhr sind die Straßen leer. In den Abendstunden bevölkern Studenten für kurze Zeit die wenigen öffentlichen Plätze und Parks, trinken eine Cola von den fliegenden Händlern und unterhalten sich, aber Öffentlichkeit gibt es so wenig wie Freizeit. Theater und Kino sind nicht nur der Zensur unterworfen wie die Werbung, sondern auch teuer und selten. Es reichen wenige Gespräche und ein Blick auf die Stadt, die kaum freie Flächen, keine Orte für Gemeinsamkeit bietet.

Es ist klar, dass das Leben hier völlig anders funktioniert.

Sieben asiatische Länder in sechs Wochen

Von der Andersartigkeit lässt sich F. nicht beeindrucken, sie ist 19 Jahre alt, hat gerade in Deutschland Abitur gemacht und bereist jetzt in sechs Wochen »sechs oder sieben« asiatische Länder, alle zwei Tage eine andere Stadt. Heute ist sie hier, sitzt mit anderen Backpackern, einem japanischen Friseur und vietnamesischen Sprachschülerinnen bei einem Bier am frühen Abend zwischen den Studenten und erzählt von der Party, die sie anschließend mit zwei Französinnen in ihrem Hotelzimmer schmeißen wird, »ihr seid auch eingeladen«. K. aus Süddeutschland wird vermutlich nicht mitkommen. Er will nachher noch in die Pham Ngu Lao im Touristenviertel. Gestern hat er dort eine Australierin getroffen, die einfach nur Sex wollte. Ich will gerne Nguyen zuhören, die mir erklärt, wie sie versucht, ihre Familie davon zu überzeugen, dass sie nie heiraten und auch keine Familie haben will. »Kaum möglich«, sagt sie, aber sie will es versuchen, will selbst reisen und einfach mal sehen, was kommt.

Turnschuhe hinter Mauern und leere Hotels an Traumstränden

»They are leaving now my country«, sagt die Beamtin am internationalen Schalter der Hauptpost, sie hat bei meinem dritten Besuch vor mir wunderschön bemalte Postkarten ausgebreitet, die künstlerisch begabte Urlauber nach Hause schicken – genaue Blicke auf die Stadt. In Di An, eine Stunde von ihr entfernt, mag man meine neugierigen Blicke nicht. Drei bewaffnete Männer ziehen mich mitsamt Moped weg, als ich hinter die fünf Meter hohen Mauern schauen will, hinter denen sich die Fabriken der Subunternehmen verbergen, die Turnschuhe, Kleidung und diverse andere Produkte für den internationalen Handel herstellen. Trotz der Bestimmtheit der Uniformierten ergeht es mir besser als den Arbeitern, die ihre Taschen kontrollieren und sich abtasten lassen müssen, bevor sie das Gelände verlassen dürfen, raus auf die Straßen, überwölbt von den gigantischen Bögen, von denen der Sozialismus seine Parolen verkündet, zwischen opulenten Blumenrabatten und dem gelben Stern auf rotem Grund.

Straßenbau muss hier ein so einträgliches Geschäft sein wie die Geldwäsche für die menschenleeren Hotels an der Küste, an denen L. und ich eine Woche später stundenlang vorbeifahren, bis wir zwischen Russen mit verbrannter Haut am Traumstrand sitzen.

Armut-Gucken ist spannend

Die Deutschen schauen sich immer gerne die Armut an und ordnen dann ein, schlimm, weniger schlimm, aber in jedem Fall spannend – eine Abenteuerreise eben. Ist auch gar nicht so teuer das Armut-Gucken und die Hotels sind gut.

Ich sitze mit L. und seiner Kollegin S. vom Goethe-Institut kurz vor Morgengrauen in kleinen Plastikstühlchen am Straßenrand. An uns laufen immer wieder Gruppen von Vietnamesen vorbei: Frühsport, der kurios anmutet, konzentrierter Spaziergang in Straßenkleidung. Das Moped von S. ist kaputt und wir haben niemanden gefunden, der es um diese Uhrzeit repariert. Die beiden Frauen, bei denen wir nun warten, wollten wohl behilflich sein, aber außer dem Kaffee auf Eis hat sich nichts getan. Neben dem lahmen Moped stehen Räucherstäbchen im Sand. S. hat über die Jahre verschiedenste Freiwillige, Geschäftsleute und Touristen erlebt und gibt sich nur noch wenigen Illusionen hin. Ihre Berichte über Manager, die ihrem Taxifahrer das Geld vor die Füße werfen, und Freiwillige, die das Leben ihrer vietnamesischen Freundin ruinieren, weil eine Beziehung ohne Heirat nicht geht, erinnern an Kurzgeschichten aus den ehemaligen Kolonien.

Der Versand junger Menschen in alle Welt und die vielen Reisen allein sind keine Garantie für Verständigung, schon gar nicht sind sie automatisch Entwicklungshilfe, weder für die Bereisten noch die Jugendlichen unterwegs.

Genau deswegen sind sie aber so spannend: Weil wir nicht die auf der richtigen Seite sind. Wir sind nur die Anderen in der Fremde. Viele Freiwillige haben das verstanden, spätestens nach ihrem Auslandsjahr – wer mehr von einem Freiwilligendienst verlangt als das und die konkrete Arbeit vor Ort, der war noch nicht auf Reisen.

Zum Autor: Valentin Hacken, Jahrgang 1991, studiert Rechtswissenschaften in Halle an der Saale und arbeitet als freier Autor. Der langjährige Schülervertreter ist Mitglied des Vorstands von Wechselwirkung – waldorfpädagogisches Austauschprogramm e.V.