Individuelle Übergänge. Ein Aufruf zur Beobachtung

Christian Boettger

Eines der typischen Vorurteile, das auch von Kritikern wie Heiner Ullrich ständig wiederholt werden, ist die Meinung, die Waldorfpädagogik folge einem starren Siebenjahresrhythmus, den Rudolf Steiner in seinen pädagogischen Vorträgen »dogmatisch« festgesetzt habe. Dagegen sind Steiners Darstellungen offen und freilassend. Man könnte sogar sagen, die Kritiker der Waldorfpädagogik trügen dazu bei, diese zu »versteinern«. In einer der letzten Diskussionen mit Heiner Ullrich gab Albert Schmelzer, Waldorfpädagoge und Professor an der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim, einen profunden Beitrag zu diesem Problem.

Was sagte Rudolf Steiner in Bezug auf den Siebenjahres-Rhythmus und den sogenannten Doppelstrom der Entwicklung von Kindern. Im Blick auf die Schulreife spricht er vor Lehrern von einem Einschnitt »um das 6., 7. Lebensjahr«, bezogen auf die Pubertät von einem »Übergang für den Menschen, wie er um das 14. und 15. Jahr liegt – bei Mädchen sogar etwas früher«. An anderer Stelle heißt es: »so lokalisiert sich in dem, was aus der Sprache und ihren Organen im 14., 15. Jahre wird – bei manchen Kindern etwas früher natürlich – das Willenselement«. Oder auch: »Im 13., 14., 15. Jahre« beginne »die Hinneigung für Ideale«.

Dieses sind offenlassende Hinweise auf Entwicklungsschritte, die sich nicht zu exakten Zeitpunkten, sondern in bestimmten Zeiträumen abspielen. Für Lehrer und Eltern ist es interessant, bei den ihnen anvertrauten Kindern diese Entwicklungsschritte und auch die individuellen Zeitpunkte zu beobachten. Von ähnlichen Zeiträumen sprechen auch Pädagogen und Ärzte (etwa Remo Largo), die nicht aus der Anthroposophie und Waldorfpädagogik kommen.

Der Strom der Individuation

Besonders die Momente, die mit der Individuation zusammenhängen, datiert Steiner nur äußerst vorsichtig. So spricht er vom Zeitpunkt des Auftretens eines ersten Ich-Bewusstseins einmal im »3. und 4.« Lebensjahr, dann wieder in der Zeit »um das 3. Lebensjahr herum«. Der Zeitpunkt ist also in der Entwicklung der Kinder nicht festgelegt, sondern es ist eine interessante Aufgabe für die Erziehenden und Begleiter der Kinder, zu beobachten, wann genau der Zeitpunkt des ersten Ich-Sagens auftritt. Wann das Kind nicht mehr von sich in der dritten Person als Karla spricht, sondern bemerkt, dass es sich als ein Ich bezeichnen kann. Es ist dieser Zeitraum etwa im Übergang des ersten Drittels zum zweiten Drittel des ersten Jahrsiebts zu finden – im Alter von zwei bis drei Jahren.

Kann man von einem ähnlichen Entwicklungsschritt im Übergang zum dritten Drittel des ersten Jahrsiebts – also mit vier bis fünf Jahren – sprechen? Ich habe an meinen eigenen Söhnen einen Reifeschritt festgestellt, der es uns leicht machte, sie erst dann in den Kindergarten zu schicken. Das war bei dem ersten kurz vor seinem fünften Geburtstag, beim mittleren war es etwa mit 4 1/2 und beim jüngsten auch etwa um diese Zeit herum. Es war die Zeit, in der sie sich nach anderen Kindern umschauten, Kontakte suchten und auch mit diesen von sich aus spielen wollten.

Gehen wir ins zweite Jahrsiebt: In der Waldorfschule wird vom Rubikon gesprochen als dem Moment, in dem die Schulkinder auf kritische Distanz zu ihrer Familie gehen. Es tauchen dann Fragen auf wie: Seid Ihr euch sicher, dass Ihr meine Eltern seid, oder könnte ich auch vertauscht worden sein? Folgende Aussagen macht Steiner zu dem Zeitraum: »Bei manchen Kindern ist der Zeitpunkt schon vor dem 9. Lebensjahr erreicht, bei manchen tritt er erst später ein, aber durchschnittlich ist das, was ich Ihnen heute zu erzählen habe, mit dem 9. Lebensjahr anfangend«. An anderer Stelle heißt es: »Er liegt für die meisten Kinder so zwischen dem 9. und 10. Jahr; es ist individuell, bei manchem Kind liegt es über das 10. Jahr hinaus.«

Auch in der zweiten Entwicklungsphase – verkürzt dem zweiten Jahrsiebt – kann man zwei solche Entwicklungsschübe beobachten. Neben dem Rubikon, für den man wieder – grob betrachtet – den Übergang vom ersten Drittel zum zweiten Drittel angeben kann, gibt es im Übergang zum dritten Drittel einen markanten Entwicklungsschritt, in dem die Kinder teilweise die ersten Schritte der körperlichen Reife gehen und innerlich die ersten Schritte in eigenem logischen Denken. Auch hier gilt: Der »Rubikon« ist weniger ein Zeitpunkt als ein Zeitraum, der sich vom Alter von sieben Jahren bis zehn Jahren erstrecken kann.

Die Behauptung, Steiner postuliere in seiner Entwicklungslehre einen »starren Rhythmus von je sieben Jahren« ist eine Konstruktion. Denn zum einen sind die Zeitangaben eher Annäherungen als fixe Punkte, zum anderen wird der normale Gang der Entwicklung durch gegenläufige Einschläge der Individualisierung durchbrochen.

Denn nach Steiner steht die Entwicklung des Heranwachsenden im Spannungsfeld von zwei gegenläufigen Tendenzen: Die »normale« Abfolge von früher Kindheit mit der Fähigkeit zur Nachahmung, mittlerer Kindheit mit dem Bedürfnis nach einer geliebten Autorität und Jugendalter mit der Ausbildung eigener Urteilsfähigkeit wird überlagert von einem Strom der Individuation, der im Ich-Bewusstsein zum Ausdruck kommt, das um das dritte Lebensjahr herum erwacht.

Auch der oft als »Rubikon« bezeichnete Umschwung im Alter von neun, zehn Jahren mit dem ersten Zweifel an Autoritäten und das Erwachen kausalen Denkens im zwölften Lebensjahr können in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Gegenläufige Richtungen

Claus-Peter Röh hat in »Übergänge in der Kindheit von der Geburt bis 14« diese beiden Entwicklungsströme in der kindlichen Entwicklung dargestellt. Er unterscheidet den Strom der leiblichen Entwicklung aus der Vergangenheit und jenen der seelisch-geistigen oder ichgeführten Entwicklung aus der Zukunft. Markante Einschläge dieser Entwicklung stellt er mit 3, 6, 9 und 12 Jahren fest (siehe Grafik).

Wenn man die Hinweise auf diese Zeitangaben für die beiden Entwicklungsströme kennt und sein eigenes Kind oder die Kinder in seiner Klasse beobachtet, interessiert es mehr, inwiefern ein Kind in seiner Entwicklung gerade von der Entwicklung anderer Kinder abweicht. In welchen Zeiträumen verläuft bei diesem Kind die Entwicklung schneller als bei der Klasse? Was drückt sich darin aus? Wie passt diese Äußerung des Kindes in mein Bild, das ich von ihm habe oder wieso passt es jetzt gerade nicht? Und wie kann ich oder die Schule oder das Elternhaus darauf reagieren, das Kind unterstützen und begleiten? Das sind die Fragen, die eine Begleitung der Kinder und Jugendlichen so spannend machen.

Schließlich: Wenn es solche Einschläge – wie aus der Zukunft – in dem ersten und zweiten Jahrsiebt gibt, kann man diese auch im dritten Jahrsiebt wahrnehmen? Wie äußert sich der Bewusstseinseinschlag eines Zukünftigen im Zeitraum zwischen etwa 14 und 21 Jahren? Markant ist in der Mitte der 10. Klasse die häufige Frage nach dem eigenen Entwicklungsweg. Erfülle ich eigentlich die Anforderungen, die ein Abschluss der Schulzeit mit sich bringt? Wie gut bin ich eigentlich? Kann ich mein Lernen selbstständiger in die Hand nehmen?

Ein anderer Einschlag wird mit dem sogenannten Mondknoten beschrieben. Es handelt sich um einen Zeitraum, der allerdings von Steiner sehr exakt angegeben wird. 18 Jahre, 7 Monate und ein paar Tage. Es ist der Zeitpunkt, in dem sich die Konstellation von Sonne und Mond vor dem Sternbildhintergrund der Geburt wiederholt. Ein Zeitraum, den viele Jugendliche so beschreiben, dass sie plötzlich das Gefühl für eine Lebensrichtung oder Lebensaufgabe bekommen haben. Auch ein Einschlag des Ichs aus der Zukunft?

Literatur: R. Steiner: Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus; GA 143, Dornach 1994; ders.: Idee und Praxis der Waldorfschule; GA 297, Dornach 1998; ders.: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft; GA 301, Dornach 1977; ders.: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung; GA 302, Dornach 1986; ders.: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis; GA 306, Dornach 1982; H. Ullrich: Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung, Weinheim 2015; C.-P. Röh: Von der Raum- zur Zeitgestalt der Kindheit – Entwicklungsbrücken für die Zukunft bilden, in: Transitions in Childhood from Birth to 14 Years, hrsg. v. Pädagogischen Sektion am Goetheanum, Dornach 2016, S. 118.

Hinweis: A. Schmelzers Diskussionsbeitrag wird in Kürze im Online Magazin ROSE – Research on Steiner Education – erscheinen: www.rosejourn.com