Zeitgenossenschaft

Mathias Maurer

Alles muss wie am Schnürchen funktionieren, man wird zum Rädchen einer Zeitmaschine, die unseren Terminkalender diktiert. Man hat sich etwas vorgenommen und eilt dem Kommenden entgegen, als hinge dem rennenden Hund eine Wurst vor dem Maul, die er nie zu packen bekommt. Die vorgestellte Zukunft ist aber nicht da und wir überspringen dabei geflissentlich die Gegenwart. Das kann auf Dauer nur Stress erzeugen.

Ganz anders, wenn Zeit zum Rhythmus wird. Wenn die Zeit zu atmen beginnt, erleben wir ihren Puls, ihre Beweglichkeit: Sie hält inne, beschleunigt, kommt wieder zur Ruhe.

Leben ist Rhythmus und es gibt nichts »Zeitgemäßeres« als sich dem Takt der Zeit zu entziehen – nicht nur im Urlaub, wo man meint, dann für alles – zum Beispiel für Wesentliches wie menschliche »Beziehungspflege« – Zeit zu haben.

Dabei kann das Zeiterleben so unterschiedlich sein: In großer Erwartung kann sie sich bis ins schier Unendliche ausdehnen und jede Sekunde rinnt wie Blei. Oder sie rast dahin, Wochen sind wie Tage, Jahre wie Monate. Sie kann an ihren äußersten Rändern zur Vergangenheit oder Zukunft so extrem sein, dass wir das Gefühl für die Gegenwart vollständig verlieren und damit paradoxerweise aus der Zeit fallen. Die Zeit bleibt stehen.

Die Gegenwart ist zeitlos. Doch um in der Gegenwart anzukommen, muss man sich die Zeit zum Freund machen. Man vertraut sich ihr an. Unser Gegenwartsempfinden ist so flüchtig – die Hirnforscher sprechen von zwei bis sechs Sekunden –, wie das Bewusstsein, dass wir aufrecht stehen, wenn wir einen Schritt von A nach B gehen. Ein Erlebnis von Zeit bekommen wir erst, wenn wir uns Zeit nehmen, uns bewusst zwischen Vergangenheit und Zukunft stellen, eine Verbindung zwischen ihnen schaffen. Wahrnehmen, besinnen, lernen und erkennen erfordert, einen Widerstand gegen den linearen Zeitstrom zu bilden – dann erst wird Entwicklung sichtbar. Dieses Dazwischenstellen bedarf einer Kraft, die als Möglichkeit nur dem ichbegabten Menschen innewohnt, das heißt, sich weder von der Vergangenheit bestimmen noch von einer Zukunftsvorstellung in seinem jetzigen Handeln festlegen zu lassen. Das hieße dann tatsächlich präsent zu sein, das hieße Zeitgenossenschaft.