Zuckerfest und Weihnachten

Mathias Maurer

»Falte mal die Hände. Gut. So, jetzt wechsle mal die Finger, so dass der andre Daumen oben ist. Wie fühlt sich das an? Komisch, ungewohnt, nicht wahr?«

Das ist das Einstiegserlebnis, das ich mit Fadi habe. Fadi Saad ist Deutscher, palästinensischer Abstammung, Muslim und Sozialarbeiter in einem der sozialen Brennpunkte Berlins: Neukölln. Dort lebt laut einer Studie von Soziologen von der Humboldt-Universität jeder Zweite von der Stütze, sechzig Prozent der unter 25-Jährigen von Hartz IV, die Kinderarmut liegt bei über fünfzig Prozent und die Jugendkriminalität verdreifachte sich innerhalb von zwei Jahren. Fadi ist mit einer deutschen Christin verheiratet und hat zwei Kinder. Und das ist schon eine Geschichte für sich, doch davon später.

Fadi treffe ich nicht in Berlin, sondern in der Provinz, auf dem Parkplatz des Stromberg-Gymnasiums im süddeutschen Vaihingen an der Enz. Dort macht er mit mir diese einfache Fingerübung. »Am Anfang fühlt sich das komisch an. Doch mit der Zeit gewöhnt man sich dran, wenn man es übt.« Ich blicke skeptisch. »Ja, so ist es mit der Begegnung fremder Kulturen«. Der Groschen fällt. Und das macht er auch mit den Schülern. Eingeladen hat ihn das Gymnasium im Rahmen seiner diesjährigen Frederik-Woche, einer landesweiten Aktion zur Leseförderung junger Menschen.

Fadis Lesereisen durch Deutschl­and begannen mit seinem Buch. Gerade kommt er von der Frankfurter Buchmesse. Jetzt zieht er von Schule zu Schule, weil es kaum eine gibt, wo nicht gemobbt, geprügelt, geklaut würde oder Integrationsfragen nicht auf der Tagesordnung stünden. Sein Buch, das die bekannte Frauenrechtlerin Seyran Ates als Pflichtlektüre für den Schulunterricht empfiehlt, heißt: Der große Bruder von Neukölln – Ich war einer von Ihnen. Sein Gesicht zeigt, er war es tatsächlich: Narben, geflicktes Jochbein, Nase wie ein Boxer. Und er erzählt allen, die sie hören möchten, seine Geschichte vom Bandenmitglied bei den Araber Boys 21, das sich zum Streetworker gewandelt hat. Mit der Gang zog er durch Berlin, klaute, verprügelte, bezog Dresche – und landete im Jugendknast. Heute zieht der Dreißigjährige als Quartiersmanager im Auftrag des Berliner Senats durch Neukölln, bewahrt Jugendliche vor dem Absturz und begleitet Angela Merkel zum Staatsempfang in den Elysée-Palast oder tritt bei Maybrit Illner im ZDF auf. Er organisiert Hausaufgabenhilfen, Berufsfindungskurse, Fussballspiele gegen die Feuerwehr und die Polizei, begleitet Familien zu Behörden, organisiert Trommel-, Sprach- und Bewegungskurse und macht Präventionsarbeit an den Schulen im Quartier.

Sein Schlüsselerlebnis war der Jugendarrest. »Nie wieder«, sagte er sich, »will ich diese Ohnmacht und Scham erleben.« Er begann nachzudenken. Sein Hauptproblem: Als »Deuraber« saß er zwischen allen Stühlen, fühlte sich in keiner Kultur richtig heimisch. Entweder gehörte man dazu oder nicht, was letztendlich die wechselseitige Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen bedeutet. Fadi hatte gelernt, sich Anerkennung und Respekt mit Gewalt zu verschaffen. »Ich wollte eigentlich eine Heimat, ich wollte nicht kriminell werden«. Ihm wurde klar, dass er mit seinem Verhalten die Vorurteile verfestigte und die kulturellen Gräben noch unüberwindlicher machte. Ihn stoppte keiner rechtzeitig. »Mir wurden von Seiten der Eltern, der Schule und der Justiz viel zu spät Grenzen gesetzt. Und das musste ich selbst ändern«, sagt er im Rückblick.

Fadi nahm sein Leben in die Hand und drehte den Spieß um: Er machte seinen Schulabschluss und eine Ausbildung und begann als Sozialarbeiter. Sein neues Programm: Vorurteile abbauen durch Begegnung, das Gespräch auf Augenhöhe suchen, denn »Anerkennung hat jeder verdient«. Darum kämpfte er ja auch schließlich in seiner Jugend-Gang, wenn auch mit den falschen Methoden. »Ich wollte eigentlich nur Gerechtigkeit und das Gefühl befriedigen, respektiert zu werden«, erzählt er. »Es ist doch menschlich vollkommen logisch, wenn mein Stolz verletzt wird oder ich gedemütigt werde, dass ich mich wehre. Nicht anders reagieren die Jungs im Quartier auch.« Heute bekommt Fadi Anerkennung im Kiez, ohne dass er dafür jemanden »abziehen« oder »klatschen« muss. Hart wird er nur bei Fremdenfeindlichkeit und macht den jungen Leuten mit Nachdruck klar, dass er nicht duldet, einen Deutschen als Kartoffel oder einen Araber als Kameltreiber zu bezeichnen. Den wenigsten ist bewusst, das das schon eine strafbare Handlung, eine Beleidigung ist, sagt er.

Fadi weiß, dass das Ungewohnte und Fremde immer mit Vorurteilen behaftet ist. Und dazu erzählt er den rund hundert anwesenden Schülern in Vaihingen seine eigene Geschichte: Als er seiner Mutter eröffnet, dass er heiraten möchte, trillert sie vor Freude los. Sie fragt: »Wen?« Er antwortet: »Eine Deutsche.« Und damit fangen die Probleme an: »Weißt Du, wie deutsche Frauen sind?«, fragt sie entsetzt. Nun fragt er die Schüler: »Na, als was gelten deutsche Frauen?« – Sie seien freizügig, egoistisch, ehrgeizig, ließen sich scheiden, könnten nicht kochen ... Und überhaupt:  Deutsche seien ein saufendes Volk und sexbesessen, Nazis und Hooligans ... Ein Klischee nach dem anderen. Und umgekehrt? Araber und Türken sind Terroristen, Machos, unterdrücken Frauen, prügeln sie ... An diesen Vorurteilen sind die Medien nicht unbeteiligt – hier wie dort. Dem kann man nur eines entgegensetzen sagt Fadi: »Mach dir ein eigenes Bild!« Dann lösen sich diese falschen Vorstellungen in Luft auf.

Fadi fragt die Schüler: »Ab wann wird Gewalt ein Straftatbestand?« – Die Schüler sind überrascht: Nicht erst ab Mord, Körperverletzung oder einem blauen Auge, sondern schon mit Verbalattacken, Beleidigungen und seelischen Verletzungen – womit er mitten im Thema Mobbing ist.

Fadi ist mittlerweile acht Jahre verheiratet, die Verwandtschaft hat sich kennen und schätzen gelernt und er feiert mit seinen Kindern das Zuckerfest und Weihnachten. Er geht im Anzug in die Kirche – eine Ehrbezeugung gegenüber der Religion des anderen, wie er sagt.

Fadi hat eine Mission. Und er glaubt an jeden einzelnen Jugendlichen, »egal wie weit unten er ist«.

Links:

www.Friedrich-Bödecker-Kreis.de
www.stromberg-gymnasium.de
www.fadisaad.de