Klassenzimmer

Warum Eurythmie?

Martin Zabel
Foto: © Charlotte Fischer

Seit ich es unterrichte, merke ich, wie schwer es ist, bei den Schüler:innen ein wirkliches Verständnis für den Sinn der Eurythmie zu wecken. Aber mit der Zeit kristallisierten sich verschiedene Möglichkeiten heraus, wie die Schüler:innen sehen können, womit Eurythmie arbeitet, sodass sie auch ein wenig verstehen können, weshalb sie unterrichtet wird.

Synapsenbildung

Eine Möglichkeit ist, dass man sie auf die Ergebnisse der Neurowissenschaften hinweist. Neurowissenschaftler:innen untersuchen Gehirne. Und anhand der Synapsen (Nervenverknüpfungen), die sie dort vorfinden, schließen sie darauf, wie sie zustande gekommen sind. So beschreiben sie ihre Arbeit gerne damit, dass es sei, als würde man eine Landschaft beobachten und auf Grund der vorgefundenen Wege und Straßen könne man darauf schließen, welche Gegebenheiten dort vorhanden sind. Je mehr Menschen sich von einem bestimmten Ort zu einem anderen bewegen, desto deutlicher wird zunächst der Trampelpfad. Schließlich baut man ihn zu einem Kiesweg, dann zu einer Straße und am Ende vielleicht sogar zu einer Autobahn aus. Wird der Weg nicht mehr genutzt, erobert ihn die Natur langsam wieder zurück.

Wenn so ein Straßennetz vorhanden ist, kann es sein, dass man recht große Umwege in Kauf nimmt, um auf besser ausgebauten Straßen zu fahren. Wer zu einem fernen Ziel reisen will, wird die Autobahn bevorzugen, da man letztendlich schneller und bequemer vorankommt ...

Ähnlich funktioniert das im Gehirn. Synapsen werden immer weiter ausgebaut, wodurch die Impulse schneller übertragen werden können, je mehr sie genutzt werden. Letztlich werden sie nicht nur für eine bestimmte Handlung oder einen speziellen Gedanken gebraucht, sondern wenn sie vorhanden sind, wird auf sie in vielfältiger Weise zurückgegriffen. So können Verknüpfungen, die beispielsweise beim Stricken oder Flöten durch die Motorik der Finger entstehen, auch in theoretischen Bereichen wie Mathematik benutzt werden. Auf die gut ausgebauten häufiger, da sie schneller sind.

In unserer Welt, in der es oft um »Input und Output« geht, wird das häufig vergessen. Man denkt, je mehr man das eine »paukt«, desto besser wird man darin. Wenn man mehr Zeit mit einem Themenkomplex verbringt, ist das der beste Weg, ihn zu erlernen. Glücklicherweise gibt es aber mittlerweile wissenschaftliche Untersuchungen, die das widerlegen. Zum Beispiel eine Untersuchung mit 70 Schweizer (Zeitschrift »New Scientist« vom 18.5.1996). Die Hälfte bekam jede Woche drei zusätzliche Musikstunden, wobei Mathe und Sprachen reduziert wurden, während die andere bei ein bis zwei Musikstunden blieb. Erstaunlicherweise war nach einem Jahr die Klasse mit der zusätzlichen Musikstunde (also weniger Mathe) gleich gut in Mathematik, aber in vielen anderen Bereichen, wie Nacherzählen, Nachschreiben oder -malen von Geschichten, war sie wesentlich besser. Außerdem verbesserte sich das Sozialverhalten sowohl untereinander als auch gegenüber den Lehrer:innen. Herleiten lässt sich ein solches Ergebnis aus der oben beschriebenen Synapsenbildung. Denn die musikalische Tätigkeit wirkt sehr stark auf die Gehirnbildung in den verschiedensten Bereichen.

Betrachten wir nun die Eurythmie und was in ihr geübt wird, so wird offen­sichtlich, wie vielfältig sie sich auf den Menschen – und damit auch auf seine Gehirnentwicklung auswirkt.

Wenn man auf die eurythmischen Bewegungen schaut, bemerkt man, dass der ganze Körper ergriffen wird. Die Beine sorgen für die Fortbewegung im Raum, die Arme gestalten Laute oder Töne, es gibt auch Kopfstellungen und der Oberkörper wird auch immer wieder gebeugt oder in verschiedene Richtungen gedreht.

Die Formen ergreifen den ganzen Raum, viele werden frontal ausgeführt, wodurch man oft rück- und seitwärts geht, wie man es sonst fast nie im normalen Leben in dieser Intensität tun würde.

Schulung der Sinne und Multitasking

In der Eurythmie bewegen sich die Füße aber nicht nur einfach irgendwie, um einen von A nach B zu bringen, sondern sie werden bewusst gelenkt – sei es im dreiteiligen Schreiten, Rhythmen laufen, im geschickten Übersetzen bei der Seitwärtsbewegung, im Stampfen und Springen. Die Bewegung der Füße ist oft nicht synchron mit der Armbewegung. So kommt es häufig vor, dass in der Ton­eurythmie ein langer Ton in den Armen »gehalten« und die Form weiter gegangen wird. Oder die Bewegung der Füße ist langsam, während die Arme schnell lautieren.

Betrachten wir die etwas weitergehenden Kompetenzen, die man in der Eurythmie gleichermaßen übt.

Wenn man sich nach hinten bewegt, während man nach vorne schaut, muss man seine Wahrnehmung für den »hinteren Raum« schulen. Im alltäglichen Leben nehmen wir die Welt zum größten Teil über unsere Augen wahr, aber auch andere Sinnesorgane sind hauptsächlich nach vorne ausgerichtet (Ohren, Nase und Mund). Bewegen wir uns nun rückwärts, was die meisten Tiere von sich aus normalerweise gar nicht oder nur durch Training machen, können wir uns nicht einfach auf die gewohnte Sinneswahrnehmung stützen, sondern müssen auf andere Wahrnehmungen zurückgreifen, die dabei natürlich auch geübt werden. Wie andere Sinnesorgane geübt werden können, kann man bei blinden Menschen beobachten, die viel wacher im Hören, Tasten und Riechen sind.

In der Eurythmie soll ja das Hörbare sichtbar gemacht werden. Das heißt, dass man seine Bewegungen an das zu Hörende (Sprache oder Musik) anpassen muss – sowohl in der Geschwindigkeit, dem richtigen »Timing«, als auch in der Ausgestaltung, also kraftvoll, fließend, groß, klein.

Die Bewegungen sollten dabei den Körper ganz ergreifen, bei den Armbewegungen bis in die Fingerspitzen hinein und später sogar möglichst darüber hinaus.

Zusätzlich übt man sich im sozialen Wahrnehmen der Gruppe. – Wie setze ich die gegebene Form und Armbewegung so um, dass sie mit den anderen zusammenkommt? Es wird ja nicht an exakt ausgeführter, äußerer Bewegung geübt, wie man das von militärischen Paraden kennt, sondern es geht um lebendiges Ergreifen. So muss man sich zusammenfinden und – passend zum Hörbaren – rücksichtsvoll bewegen.

Außerdem geht es auch um die Abstimmung mit den anderen, indem man sich geschickt umeinander bewegt, in den Formen kreuzt, die anderen durch seine Bewegungen unterstützt – im Austausch und Kontakt steht.

Meinen Schüler:innen sage ich immer, Eurythmie sei eigentlich die schönste Art von Multitasking, da so viele Sinne gleichzeitig beansprucht werden. Aber schließlich dient alles einem großen Ganzen. Somit ist es etwas ganz anderes, als Multitasking im gewöhnlichen Sinn, bei dem man zwar verschiedene Dinge gleichzeitig macht, die unterschiedlichen Tätigkeiten sich aber gegenseitig stören.

Jetzt stellen Sie sich mal vor, was da im Gehirn eines sich eurythmisch bewegenden Menschen alles los ist! Durch das häufige Üben werden vielfältige Synapsen verknüpft und ausgebaut. Auf sie können dann die anderen Fächer »zurückgreifen« und sicherlich wird die eine oder andere »Eurythmie-Synapsen-Autobahn« für die prüfungsrelevanten Fächer benutzt, ohne dass man es bemerkt – ganz abgesehen von den sozialen, musikalischen, sprachlichen und koordinatorischen Fähigkeiten, die geübt werden. Das war ein sehr spezieller Blick auf die Eurythmie, der sich auf die Synapsenbildung konzentrierte, wobei sie natürlich auch in vielen anderen Bereichen wirksam ist.

Zum Autor: Martin Zabel ist Klassen- und Eurythmielehrer an der Freien Waldorfschule Freudenstadt

Kommentare

Ursula Bloss, Dornach,

Ich bin eine alte Eurythmistin, die auch gern unterrichtet hat. Für die heutige Digitalwelt ist das eine sehr gute Erklärung. Man darf aber nicht vergessen, dass daneben auch das Dargetellte eine Rolle spielt, also Dichter oder Komponist, in deren Welt man sich einleben muss, um adäquat ein Bild zu geben.