Zumutung Anthroposophie
Wenn man die Welle der Anfeindungen gegen die Anthroposophie und Waldorfpädagogik des Jahres 2021 erlebt hat und gleichzeitig immer wieder erleben kann, wie sich die eigenen Kinder in ihrer Schule wohlfühlen, steht man vor einem Rätsel.
Da kann es helfen, dieses Buch aus dem Info3 Verlag von Wolfgang Müller zu nehmen und sich von ihm mitnehmen zu lassen auf eine Entdeckungsreise zu den Punkten, die in ernstzunehmenden Kritiken immer wieder angesprochen werden. Wolfgang Müller war Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk in den Ressorts Wissenschaft und Zeitgeschichte und hat in der Frankfurter Allgemeinen, der Zeit und der taz veröffentlicht.
Sein Fazit nehme ich vorweg: »Das Phänomen Steiner bleibt erstaunlich und leicht angreifbar. Nur diejenigen werden es für relevant halten, die wenigstens in Teilbereichen den klaren Eindruck gewinnen, dass hier große Durchblicke gelungen sind, die unserer Zeit bitter fehlen; und die bereit sind anzuerkennen, dass Bedeutendes nicht immer auf die Weise in die Welt tritt, wie man das nach den gewohnten Kategorien erwarten würde.«
Auf den 180 Seiten finden die Leser:innen, wie es Müller selber bescheiden beschreibt, kleine Exkursionen in die zentralen Themen, die immer wieder in Kritiken aufgegriffen werden. Auch wenn die Waldorfpädagogik selbst nicht vorkommt, erachte ich das Buch für Waldorflehrer:innen und vor allem auch interessierte Eltern als sehr hilfreich, denn Müller schafft es, auf seinen Exkursionen sehr zielgerichtet Einstiege in unwegsame Gelände zu finden und dann prägnant formulierend auf die eigentlich entscheidenden Aspekte hinzuweisen. Aphoristische Gedanken bilden den Ein- und Ausstieg in und aus dem Buch.
Genial habe ich den Zugang zu Rudolf Steiners Lebensgeschichte empfunden. Müller schafft das, indem er zunächst die Leser:innen in einen Vortrag Steiners zu den polaren Lebensgeschichten von Leo Tolstoj und Andrew Carnegie mitnimmt und daran zeigt, wie Lebensgeschichten als Seelengeschichte tiefer lesbar werden. So kann Müller Steiners Lebensgang auf die ganz prägnanten und ihm wichtigen Aspekte beschränken und ihm dabei gleichzeitig gerecht werden. Sein Resümee: Es könnte »intelligent sein, sich das, was er zu sagen hat, anzuhören und mit den eigenen Wahrnehmungen in Beziehung zu setzen ...«. Danach geht es in der gleichen Prägnanz durch die folgenden Themen: Anthroposophie und Wissenschaft, Philosophische Gesichtspunkte, Rassismus- und Antisemitismusdebatte, Anthroposophie und Religion, Medizin und zum Abschluss die Dreigliederung. Wie schon geschrieben, fehlt die Pädagogik, die ja auch in der öffentlichen Debatte oft missverstanden wird. Müller geht auch nicht auf die Herausforderung ein, die biologisch-dynamische Landwirtschaft als eine wegweisende Möglichkeit zu sehen, mit Pflanzen, Tieren und der Erde so zu leben und zu arbeiten, dass zumindest ein qualitativ hochwertiger und ökologisch vertretbarer Umgang gewährleistet ist. Er arbeitet an den Themen, zu denen er kompetent schreiben kann und persönlich Zugänge hat und genau das zeichnet ihn und sein Buch aus. Er schafft es durch seinen journalistischen Blick von außen, sowohl Insidern als auch Menschen, die bis jetzt wenig Berührung mit der Anthroposophie hatten, eine intelligente Perspektive zu geben und nebenbei oberflächliche Urteilsbildungen zu entlarven.
Lange habe ich mich gefragt, ob der Titel Zumutung Anthroposophie gut gewählt ist, denn zunächst dachte ich: mal wieder eines der üblichen kritischen Bücher. Beim weiteren Nachdenken und nachdem ich das Buch gelesen habe, ging mir jedoch die Doppeldeutigkeit des Wortes Zumutung auf. Sich in zunächst nicht leicht zugängliche Dinge zu vertiefen, ist eine »Zumutung«. Andererseits ermutigt Müller seine Leser:innen, sich in die Anregungen der Anthroposophie zu vertiefen und sie dann auch mutig zu vertreten. Denn ohne solchen zumutbaren Mut lässt sich die Welt nicht freier und menschlicher gestalten.
Wolfgang Müller: Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart. 178 Seiten, Info 3 Verlag Frankfurt 2021, 14,90 Euro