Zwischen Krieg und Schule. Waldorfpädagogik in der Ukraine

Elena Killge

Alles hat mit dem gerade 21jährigen Volodja begonnen, der in einem Buch bei seiner Mutter den Namen Rudolf Steiner entdeckte. Er ließ ihn nicht los, bis er eines Tages vor dem Goetheanum stand. Drei Monate blieb er in Dornach, lernte Deutsch und studierte Anthroposophie.

Inzwischen ist er durch eine Mine ums Leben gekommen.

»Kiew braucht eine Waldorfschule. Wir werden sie gründen!« Volodjas Überzeugung und Zielstrebigkeit hat viele junge Menschen in Kiew angesteckt. Ich war einer von ihnen. Es waren die 1990er Jahre. Waldorfpädagogik in der Ukraine? Unmöglich! Ihr seid verrückt! Nach Westen zu einer Waldorflehrer-Ausbildung zu fahren, war wirklich nicht möglich. Aber wir haben »gerufen« und der Westen kam zu uns. Schweizer Dozenten, die sich vorher nicht kannten, verbanden sich in einem Kollegium, durch unsere Briefe zusammengeführt, und beschlossen, eine Waldorflehrer-Ausbildung in Kiew zu gründen. Eduard und Barbara Hasselberg, Eckhard und Brünhild Dönges, Peter Lüthi und viele praktizierende Waldorflehrer aus der Schweiz kamen regelmäßig nach Kiew und bildeten uns aus. Viele von ihnen haben ihr persönliches Schicksal mit der Ukraine verbunden. Es gibt inzwischen in Kiew Seminare für Heilpädagogik, Heileurythmie, für anthroposophische Medizin und eine Waldorflehrer- und Waldorferzieherausbildung. Das ist ein Wunder!

Die Waldorfinitiative in Kiew bestand vor zwanzig Jahren aus einer kleinen, aber sehr enthusiastischen Gruppe. 1998 öffnete der erste Waldorfkindergarten seine Türen und ein Jahr darauf die Schule. Die ersten Waldorfkinder trafen sich bei einer Erzieherin zu Hause – ein eigenes Gebäude zu bekommen schien damals ein Traum zu sein … Unglaublich, wenn man heute an das vierstöckige Gebäude der Waldorfschule Sophia mit ihren 400 Schülern denkt! Die erste, zweite und dritte Klasse sind heute zweizügig, mit rund 30 Kindern je Klasse.

Die treibende Kraft während dieser ganzen Zeit war Volodja, Volodymyr Kochetkow-Sukach. Mittlerweile war er älter geworden und hatte vier eigene Kinder in der Waldorfschule Sophia in Kiew. In schweren Zeiten, als die Waldorfpädagogik immer wieder angegriffen wurde, standen mutige Eltern wie ein eiserner Kreis um die Schule herum und verhinderten ihre Schließung. Heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Waldorfpädagogik ihren sicheren Platz im ukrainischen Gesellschaftsleben hat.

Es sind wieder schwere Zeiten gekommen – nicht nur für die Waldorfschulen: Das ganze Land kämpft heute um seine Zukunft.

Unterrichten im Krieg

Kann man sich vorstellen, wie es ist, wenn die Ehemänner der Lehrerinnen und die Eltern der Kinder im Krieg sind? Wenn Lehrerinnen in ihrer Freizeit noch als Freiwillige Medikamente oder Spenden für die Front sammeln, auf Beerdigungen gehen oder den Verletzten und ihren Familien helfen? Wie es ist, wenn es seit eineinhalb Jahren keine Ruhe gibt, nur Trauer und Schmerz, die Erwartung des Schlimmsten, und dennoch die Hoffnung, dass es endlich vorbei ist … und es geht nicht vorbei? An keinem geht es vorbei! Volodjas Tod hat alle, die mit der Waldorfschule und der Anthroposophie in Kiew zu tun haben, tief getroffen: er begründete die Waldorfschule Sophia, unzählige Projekte, welche auch in Zukunft eine große Rolle in unserem Leben spielen werden. Er war ein Beweis dafür, dass Wunder geschehen, ein lebendes Beispiel dafür, was ein frei denkender Mensch bewirken kann. So leben wir im Krieg und unterrichten doch, leben mit dem Blick in die Zukunft.

Auch die Kinder der Waldorfschule Sophia sind nicht nur mit dem Unterricht beschäftigt. Sie schreiben regelmäßig Briefe für die Soldaten und malen Bilder für sie. Diese Briefe werden an der Front sehnsüchtig erwartet, sie dienen als schützende Talismane und seelische Unterstützung für alle Kämpfenden. Seit einiger Zeit flechten die Schüler aus besonderen Fäden sogenannte multifunktionale Bänder, die für das Zunähen von Wunden, als Verband verletzter Körperteile oder sogar zum Herausziehen der Verletzten aus einer Verschüttung dienen können. Oft geben die Schüler in den Kiewer Krankenhäusern Konzerte und versuchen mit ihrer Musik, den Menschen dort ein bisschen Wärme zu schenken.

Natürlich ist die heutige Situation sehr belastend für alle. Aber so viel Mitleid und Achtsamkeit untereinander habe ich noch nie erlebt.

Nach 13 Jahren offizielle Anerkennung

Es gibt nur vier offizielle ukrainische Waldorfschulen: Dnepropetrowsk, Odessa, Kriwij Rig und Kiew. Mehrere Waldorfschulen und Initiativen auf privater Basis sind aus finanziellen Gründen geschlossen worden oder sind nicht mehr Waldorf. Alle Schulen, die auf staatlicher Basis arbeiteten, leben noch und wachsen sogar weiter. Das Jahr 2014 war nicht nur durch die Maidan-Revolution und den Krieg mit Russland gekennzeichnet. In jenem Jahr ging auch ein vom ukrainischen Bildungs- und Wissenschaftsministerium mit den Waldorfschulen durchgeführtes »pädagogisches Experiment« erfolgreich zu Ende. Dank dieses »Experiments«, das 13 Jahre dauerte, dürfen die Schulen nun offiziell nach den Prinzipien der Waldorfpädagogik arbeiten. In den 1990er Jahren, als sie mit ihrer Arbeit begannen, mussten sie sich fast verstecken. 77 Prozent der ehemaligen Waldorfschüler sind heute Studenten an Hochschulen und Universitäten.

In der Kiewer Pädagogischen Universität finden Vorlesungen und Seminare zur Waldorfpädagogik statt. Das Interesse für Waldorfpädagogik wächst weiter und es gibt mehrere neue pädagogische Initiativen in Dnepropetrowsk, Saporischje, Nikolaew und Kiew.

Zur Autorin: Elena Killge ist Eurythmielehrerin an der Rudolf Steiner Schule Mittelrhein / Neuwied und wurde in Kiew geboren.