Zwischen Polaritäten. Gedanken zu Steiners Lehrerkurs 1919 – der zweite Tag

Sven Saar

Aus dem vorgeburtlichen Leben kommt die Tendenz zur Antipathie: Wir grenzen uns ab, um uns unserer selbst und auch der Welt bewusst zu werden. Das ist nicht negativ gemeint: Ich muss mir meiner eigenen Grenzen bewusst sein, um etwas Anderes überhaupt als anderes zu erkennen. Dabei hilft mir mein Denken, das Bilder produziert, welche der Realität nahe kommen, sie aber nie ersetzen: Ein Bild ist immer »sub-real«.

Ganz anders der Impuls der Zukunft: Wir drängen zu ihr in Sympathie, die erst einmal nichts Erkennendes an sich hat, weil keine inneren Bilder mit ihr verbunden sind. Die geistige Heimat des Menschen ist wie ein Sog, der uns ins Unbekannte zieht. Mit diesem Strom befeuert sich unser Wille, unbewusst nach vorne strebend. Alles Willenshafte, so Steiner, ist wie ein Keim und damit »super-real«: In der Tulpenzwiebel ist nichts Bildhaftes, alles ist weiß und ungeformt. Und doch ist, was einmal Tulpe werden wird, als übersinnliche Realität in diesem Keim enthalten.

Was hat das mit Erziehung zu tun? Der antipathische Pol hilft mir, ein Kind zu verstehen. Ich sehe es im Kontext seiner Fähigkeiten, seiner Leistungen und im Vergleich mit anderen Kindern und mache mir ein Bild, das wächst und sich entwickelt. Wie gehe ich mit Konflikten um oder helfe einem Schüler mit Rechtschreibschwäche? Um hier weise vorzugehen, brauche ich das Licht der Erkenntnis, das mir der antipathische Blick verleiht – nicht lieblos, aber ordnend.

Der sympathische Pol bringt Zuwendung zum Kind. Wenn ich innerlich oder äußerlich frage: »Was brauchst du denn?«, darf ich nicht auf die von mir bestimmte Antwort warten. Der wertende Blick auf das Epochenheft oder das Kopfrechnen zeigen nur die Vergangenheit: »Das kannst du also schon.« Das ist eine wichtige Hälfte des Kindes. Die andere ist unsichtbar, denn sie liegt wie die Blüte in der Zwiebel in der Zukunft. Hier bedürfen die Schüler meiner liebevollen Phantasie. Aus der Frage »Was bringst du mit?« entwickelt sich »Wo willst du hin?«. Ich muss respektvoll und freilassend sein. Ich kann dem Kind bei der Verwirklichung seiner Intentionen helfen, darf aber nichts vorgeben. Eine meiner liebsten Übungen ist es, mir meine Schüler im Alter von 40 Jahren vorzustellen und ihnen Fragen zu stellen: Wo wohnst du jetzt? Was ist dein Beruf? Bist du glücklich in deiner Beziehung? Mögen dich deine Kollegen? Wie erziehst du deine Kinder? – Dabei geht es nicht um meine Wünsche und Ambitionen. Ich kann aus einer Tulpe keine Nelke machen, bloß weil Nelken in meinem Garten besser wachsen, sondern muss versuchen, die Gegebenheiten eben so tulpenaffin wie möglich zu gestalten.

Wer nur denkend auf die Welt schaut, versteht sie nur zur Hälfte. Wer gedankenlos seinen Impulsen folgt, verletzt sich selbst und andere. Die beiden Pole vereinigen sich im Gefühl. Das ist nichts Ungefähres, sondern ein ständiges Spiel zwischen Denken und Wollen, von Vergangenheit und Zukunft, von antipathischen und sympathischen Impulsen. Hier muss der Mensch mit vollem Bewusstsein in jedem Moment seines Lebens weise und mutige Entscheidungen treffen.