Die schwarz sehen, sehen eigentlich nichts. Zur Krise der englischen Waldorfschulen
Inzwischen ist allen Beteiligten klar, dass die bedrohliche Situation in England – in Schottland und Wales ist die Lage etwas anders – nicht allein die Schuld eines brutalen, autoritären Staatswesens ist. Die Kontrollsucht der Behörden zieht sich durch die britische Gesellschaft in Krankenhäusern, Kindergärten und Kommunen, aber die alleinige Ursache für die Fragilität des Waldorfimpulses ist sie nicht.
In den vergangenen Monaten ist deutlich geworden, dass viele Lehrpersönlichkeiten lange Zeit zu wohwollend und unkritisch auf die eigene Praxis geblickt haben. Dabei wurde oft das Lernverhalten der Kinder nicht genügend berücksichtigt, und besorgte Eltern mit Scheinargumenten beschwichtigt: »Die Waldorfpädagogik bewegt sich eben in einem langsameren Tempo!« – obwohl man diesen Satz ganz sicher nicht bei Rudolf Steiner findet. Die Folge ist, dass viele Schüler das Lesen und Schreiben nicht systematisch erlernt haben, und ihnen wesentliche Grundlagen in der Mathematik fehlen. An sich wäre das kein Grund zur Panik: gute Mentorierung von Lehrern und aufmunternde Motivierung der Kinder könnte solche Fehlentwicklungen effektiv korrigieren. Nobody’s perfect!
Im britischen Schulsystem wird es aber immer schwieriger, derartige Unzulänglichkeiten zu kaschieren, weil der – wenn auch äußerliche – Lernfortschritt der Schüler gemessen und dokumentiert wird. Da muss der Durchschnitt stimmen, und die Schulinspektoren schon nach oberflächlichem Blick überzeugt sein, dass hier nach professionellen Maßstäben gearbeitet wird. Nach der Zwangsschließung der traditionsreichen Schule Kings Langley hat die englische Waldorfbewegung nun auch die drei großen staatlich finanzierten »Steiner Academies« an den Avanti School Trust verloren. Andere Institutionen haben aufgrund finanzieller Belastung aufgegeben oder sind von der Schließung bedroht.
In dieser unsicheren Atmosphäre haben viele Schulvorstände die Selbstverwaltung abgeschafft und hierarchische Strukturen aus den Regelschulen übernommen. Die neuen Schulleiter bekommen mindestens das doppelte Gehalt der Lehrer und haben oft nie vor einer Waldorfklasse gestanden. Nun sollen sie die Schulen retten und setzen dabei die ihnen bekannten Werkzeuge ein, mit denen die Belegschaft oft alles andere als vertraut oder einverstanden ist.
Einigen Schulen ist es gelungen, aus der Krise schnell zu lernen und die Behörden davon zu überzeugen, dass sie die Herausforderung annehmen, sich professionalisieren zu müssen. In der Regel sind diese Schulen kleiner, jünger und überschaubarer – die Kommunikationswege sind kürzer und das Gefühl der gemeinsamen Verantwortung spürbarer. Der britische Waldorfbund – die Steiner Waldorf Schools Fellowship (SWSF) – hat seine Posten neu besetzt und versucht, Wege aus der Krise zu finden. Parallel dazu gibt es Graswurzelbewegungen wie die »Chalice«, eine auf der landesweiten Waldorflehrertagung 2019 gegründete Kommunikationsplattform, auf der sich mittlerweile über 300 Kolleginnen und Kollegen frei informieren und austauschen können.
Das laufende Jahr wird zeigen, ob die Versuche zur Qualitätsverbesserung in den Kollegien genügend Unterstützung erhalten, um nachhaltig zu wirken. Zur Zeit lassen sich immerhin über 100 Studenten in berufsbegleitenden Kursen zum Waldorflehrer ausbilden. Sie sehen darin eine lebensverändernde berufliche Perspektive, und die noch mehrere tausend Schüler in zwei Dutzend Schulen erwarten von den Verantwortlichen, dass ihr Recht auf eine friedliche, erlebnisreiche Kindheit und Jugend erstritten und verteidigt wird.
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