Traumapädagogik im Nirgendwo

Bernd Ruf

Das Wort Kakuma bedeutet in Kisuaheli so viel wie »nirgendwo hin«. Tausende von Flüchtlingen erreichen seit Monaten erschöpft und traumatisiert das von der UNHCR betriebene Lager im nordkenianischen »Nirgendwo«. Sie alle mussten unvorstellbare Strapazen und grausame Schicksalsschläge erleiden, die sie zum Teil schwer traumatisierten.

Das Flüchtlingslager Kakuma wurde ursprünglich 1992 für Flüchtlinge aus dem Süd-Sudan errichtet. Es liegt im Nordosten Kenias. Mit seinen inzwischen etwa 100.000 Insassen aus Äthiopien, Burundi, dem Kongo, Ruanda, Uganda, Somalia und dem Süd-Sudan hat es die Grenzen seiner Kapazität längst erreicht. Etwa 38 Prozent der Kinder besuchen die insgesamt 18 Schulen des Lagers. Dicht gedrängt sitzen bis zu 250 Kinder mit ihrem Lehrer in einem kleinen Klassenzimmer. Außer einer Hand voll Kindergärten, die hohe Beiträge erheben, gibt es keinerlei Angebote für die Betreuung der unter Fünfjährigen.

Das Leid der Menschen

Die Kinder im kenianischen Flüchtlingscamp sind alle traumatisiert. Viele leiden an komplexen Multitraumata, sequentiellen Traumatisierungen und an Beziehungstraumata.

Neben Krieg und Katastrophen können auch Armut und Hunger traumatisieren. Sie stellen für die Betroffenen eine existentielle Bedrohung und einen Kontrollverlust dar. »Hungertraumata« haben meist psychosoziale Folgen, die zu Bindungsstörungen und fehlentwickeltem Sozialverhalten führen können. Die Kinder leiden an gestörten Wach- und Schlafphasen und psychiatrischen Auffälligkeiten. In der kognitiven Entwicklung zeigen sich Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen, Sprachdefizite und Entwicklungsverzögerungen. Auch ihre körperliche Entwicklung ist meist verzögert oder beeinträchtigt. Motorische Störungen und eine erhöhte Infektanfälligkeit sind weit verbreitet. Viele zeigen typische Symptome, wie Panikattacken, Aggressionen und Motivationsprobleme. Auch Regressionen können eintreten, wobei Kinder und Jugendliche in bereits überwundene Entwicklungsperioden zurückfallen (z.B. Bettnässen, Daumenlutschen, Babysprache).

Während in den ersten Wochen nach einer Katastrophe die genannten Symptome eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis darstellen, kann es bei einem Scheitern des Verarbeitungsprozesses zu massiven Folgestörungen kommen. Zu diesen gehört auch die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), deren langjährige Chronifizierung zu einem Biographiebruch führen kann. Mögliche Konsequenzen sind der Verlust der Berufsfähigkeit, soziale Isolation, Drogenabhängigkeit, Delinquenz und suizidales Verhalten.

Pädagogische Schutzräume für die traumatisierten Kinder in Kakuma

Jamila (Name geändert) ist 16 Jahre alt und kommt aus Somalia. Sie war zwölf Monate auf der Flucht, nachdem ihre Familie von Milizen ermordet wurde. In dieser Zeit wurde sie zwölf Mal vergewaltigt. Ihr Baby ist jetzt drei Wochen alt. Seit einigen Wochen lebt sie im zentralen Aufnahmelager, in dem sich alle Ankömmlinge einem Registrierungsprozedere unterziehen müssen. Etwa 100 elternlose Kinder erreichen täglich das Camp. Fast alle sind unterernährt und leiden an Durchfällen, Anämie und Tuberkulose. Die Kinder bleiben zunächst solange im Aufnahmelager, bis sie an Pflegeeltern innerhalb des Lagers vermittelt werden können. Doch auch dort erwartet sie oftmals eine nicht kindgerechte Zeit.

Kinder und Jugendliche, die Unsagbares erlebt haben, benötigen zur Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen zunächst einen geschützten Ort, an dem sie sich geborgen und sicher fühlen. Das pädagogische Notfallteam der Freunde der Erziehungskunst, unterstützt von einem achtköpfigen pädagogischen Team aus Kenia sowie von weiteren acht Lehrern aus dem Kakuma-Flüchtlingslager, begann seine Arbeit deshalb mit dem Aufbau eines Kinderschutzzentrums.

Singend und klatschend zog das Notfallteam durch das Aufnahmelager und machte die Kinder auf die anstehenden Aktivitäten aufmerksam. Nach einem gemeinsamen Auftaktlied mit 200 Kindern folgten rhythmische Klatsch- und Stampfübungen. Schließlich wurden Workshops im Bereich der Kunsttherapie, Geschichtenerzählen, Eurythmie und Erlebnispädagogik angeboten. Ein Abschlusskreis mit rhythmischen Übungen und einem Schlusslied beendete die Arbeit. Die Kinder wurden geordnet verabschiedet und entlassen.

Traumapädagogik für Kleinkinder

In der Nähe des Aufnahmelagers befindet sich die Mt. Songot Vorschule mit 485 Kindern und zehn Lehrern in sieben Klassen. Der Schulleiter Ali Osman stellt zwei kleine Räume seiner Schule zum Aufbau einer Kleinkind-Gruppe zur Verfügung, in dem – angelegt an den Tagesaufbau des Waldorfkindergartens – mit unter dreijährigen Kindern gearbeitet wird.

Traumapädagogik – Fortbildungsseminare für Lehrer im Flüchtlingslager

Auch die Lehrer im Kakuma-Camp sind überwiegend traumatisiert. Sie berichten von Motivationsproblemen, anhaltender Schreckhaftigkeit, Gedächtnisstörungen, panikartigen Ängsten, Alkoholschwierigkeiten und Eheproblemen.

An die Arbeit mit den Kindern schloss sich deshalb eine dreitägige Seminararbeit für etwa 30 heilpädagogischen Lehrern, Sozialarbeitern und Lehrern der Vorschulen an. Neben allgemeinen Fragen der Psychotraumatologie und der Notfallpädagogik ging es vor allem um die kindliche Entwicklung im ersten und zweiten Jahrsiebt und Entwicklungsstörungen angesichts traumatischer Erlebnisse. Zusätzlich standen künstlerische Aktivitäten, Bewegung und rhythmische Übungen im Mittelpunkt. Eine Seminareinheit widmete sich der Frage nach der Gestaltung der Schule als »sicherer Ort«.

Kampf gegen die Resignation – Herausforderungen, Aufgaben, Perspektiven

Die traumapädagogische Aufbauarbeit des internationalen Notfallteams der Freunde der Erziehungskunst fand große Aufmerksamkeit. Das Projekt wurde von den Bundestagsabgeordneten Thilo Hoppe (stellvertretender Vorsitzender des entwicklungspolitischen Ausschusses), und Frank Heinrich (stellvertretender Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses), sowie von UNO-Vertretern besucht und gewürdigt.

Drei weitere Unterstützungsreisen des internationalen Notfallteams sind für das Jahr 2012 vorgesehen. Die begonnene Arbeit im Aufnahmelager und in der Mt. Songot-Vorschule soll stabilisiert, ein weiteres Kinderschutzzentrum in der »Schutzzone« sowie eine weitere Kinderkrippe eröffnet werden. Außerdem ist geplant, zukünftig Elternsprechstunden zum Umgang mit traumaspezifischen Verhaltensweisen von Kindern anzubieten. Um die Beschäftigung der insgesamt 16 kenianischen Pädagogen und die so wichtige traumapädagogische Arbeit in Kakuma gewährleisten zu können, sind die Freunde der Erziehungskunst dringend auf weitere Unterstützung angewiesen.

www.freunde-waldorf.de


Dem internationalen Kriseninterventionsteam gehörten an: Fiona Bay (Krankenschwester), Christoph Doll (Waldorfpädagoge), Moises Elosua (Waldorfpädagoge/Erlebnispädagoge), Sarah-Marie Lengwenat (Waldorferzieherin), Kristina Manz (Koordinatorin), Jörg Merzenich (Heilpädagoge), Reinaldo Nascimento (Erlebnispädagoge), Dr. Johannes Portner (Arzt), Bernd Ruf (Sonderpädagoge, Einsatzleitung), Yoko Miwa (Psychologin), Birgit Marie Stoewer (Waldorferzieherin), Dimitri Vinogradov (Heileurythmist), Heidi Wolf (Kunsttherapeutin).

Dem kenianischen Interventionsteam gehörten an: Valerian Mbandy (Waldorflehrer), Lucy Muriuki (Waldorferzieherin), Maria Mdunciv (Lehrerin), Christine Mugo (Lehrerin), Salomom Wagura (Lehrer), Millicent Atsangu (Lehrerin), Bellah Wairimu (Koordinatorin), Pauline Abok (Praktikantin), Mary Ndungu (Kindergärtnerin).