Corona – eine Weltprobe?

Friedemann Schad

Viele melden sich zu Wort. Es ist nicht mehr leicht, den Überblick zu behalten. Virologen scheinen die Experten des Augenblicks zu sein. Man fragt sich allerdings, wie viele es davon eigentlich gibt, denn mehr als fünf sind es anscheinend nicht. Bräuchte es nicht eine Expertenkommission aus allen relevanten Fachrichtungen, Epidemiologen, Infektiologen, Hygieniker, Kliniker, Intensivmediziner, Ethiker und Virologen, die ihre Kompetenz zu einem Ganzen zusammenfügen?

Mahnende Stimmen kritisieren die derzeitigen Entscheidungen. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen seien zu gravierend, die Auswirkungen dieser Maßnahmen verursachten mehr Tote als sie verhinderten, die Strategie müsse eine andere sein, sie sei nicht ausreichend wissenschaftlich abgesichert. Allerdings sind durch den dramatischen Anstieg zu beatmender Patienten wie in Colmar und Straßburg Krankenhäuser binnen Tagen überfüllt. Über 80-Jährige werden in einigen Regionen von vorne herein nicht mehr intensivmedizinisch behandelt, sondern beim Sterben begleitet, so gut es geht. Meine Eltern und Schwiegereltern würden darunter fallen, alle vier. Es gibt also ein Problem. Wir gehen täglich auf die RKI-Seite oder die einer amerikanischen Universität, um die aktuellen Zahlen zu sehen. Wie viele sind seit gestern dazugekommen, Infizierte, Erkrankte, Verstorbene? Auch steigt jetzt in den Tabellen die Spalte mit den Genesenen. Und doch, wie wird es im Iran werden, im Flüchtlingslager auf Lesbos, in den USA? Der Gouverneur von New York, Andrew Cuomo, bekam 400 Beatmungsgeräte in Aussicht gestellt, er sagte er brauche 30.000 in den nächsten 14 Tagen.[1],[2]

Welches Land hat es am besten gelöst? China sei praktisch ohne Neuinfektionen, aber stimmen die Zahlen? Korea – mit bestmöglicher Überwachung und Identifizierung von positiv Getesteten, die dann unter Quarantäne gestellt werden, hat sich die Ansteckung deutlich verlangsamt. Allerdings wurde auch ein möglichst lückenloses digitales Tracking aller Infizierten und ihrer Kontaktpersonen durchgeführt. Möglicherweise erhält man in Zukunft sogar eine Warnung per App, wenn man die Abstandsregel nicht einhält.

Geht das auch bei uns? Wir wollen nicht ohne weiteres tun, was unsere Regierungen so sagen, wir hinterfragen es. Und doch, zwischen 54% und 75% aller Befragten haben letzte Woche angegeben, mit dem Krisenmanagement der Bunderegierung zufrieden zu sein und die erlassenen Maßnahmen zu unterstützen. [3],[4] Aber wann flacht die Ansteckungskurve auch bei uns ab? In Indien ist eine weitreichende Ausgangssperre erlassen worden, sie betrifft mehr als 1.3 Milliarden Menschen![5] Schweden macht es bisher anders.[6] Dort sind weiterhin die Skipisten auf, ebenso die Restaurants, man setzt auf den mündigen Bürger. Die dortigen Epidemiologien haben ausgerechnet, dass man mit der zu erwartenden Sterblichkeit fertig werden kann, ggf. müssten die Kranken in größeren Hallen behandelt werden. In Stockholm gibt es 90 reguläre Intensivbetten,[1] in Berlin sind es 2000.[7] Wir sollen uns nicht näher als 1,5 Meter kommen. Abstand halten ist die neue Nähe. Ein Kommentator sagte, social distancing (soziale Distanzierung) sei eigentlich der falsche Begriff, denn es sei ja damit ein körperlicher Mindestabstand gemeint. Die seelische Nähe, die Zuwendung, das Zuhören könne doch sogar zunehmen. Ein interessanter Gedanke.

Grundsätzlich bleibt offen, wie wir aus den getroffenen Maßnahmen wieder herausfinden. Eine Lockerung wird sein müssen, das soziale Miteinander schrittweise normalisiert werden, damit Kinder und Jugendliche wieder in die Schule gehen können und alle, bei denen es verantwortbar ist, wieder zur Arbeit. Wir werden risikoadaptierte Lösungen suchen müssen. Es wird auch die zunehmende Immunisierung der Bevölkerung ihren Beitrag leisten, aber wahrscheinlich langsamer als gedacht. Und alle hoffen auf eine Impfung. Allerdings muss man wissen, dass die normale saisonale Grippeimpfung in manchen Jahren nur eine mittlere Erfolgsquote von 62 % hat.[8] Wie erfolgreich der Coronaimpfstoff wird, ist unklar. Unsere Gesellschaften werden gemeinsam verantwortete Risiken eingehen müssen, überall auf der Welt.

Dabei wird in nächster Zeit die Testung aller Menschen, auch der Gesunden ohne Krankheitssymptome, eine wesentliche Rolle spielen. Wer hätte gedacht, dass wir zu wenige Tests haben? Wie kann das sein, wir sind doch in Deutschland, in Europa, uns mangelt es doch sonst an fast nichts. In einer Millionenstadt wie Berlin kann man pro Tag grade Mal 3100 Tests durchführen. Schnellere Labormaschinen wurden gekauft. Sie können aber nicht bedient werden (4000 Testungen pro Durchlauf, das entspräche etwa 25.000/Tag alleine in Berlin), weil die Substanzen nur von einer Firma aus den USA geliefert werden und deren Ausfuhr hat der Präsident verboten. Die brauchen sie eben selber.

Die Politik versucht ihr Bestes. Wer möchte das alles entscheiden? Wer möchte hier einen Fehler begehen? Menschenleben stehen auf dem Spiel, ethische Konflikte kommen auf uns zu. Die Wirtschaft erleidet einen bisher kaum vorstellbaren Niedergang. Selbstständige, Zulieferer, Kulturschaffende und Künstler verlieren ihr Einkommen. Insolvenzen drohen überall, Bars, Restaurants, Fabriken sind geschlossen. Bis Ostern hat man sich einer Strategie verschrieben, danach hofft man, weisen uns die Zahlen einen rationalen Weg. Wie weiter? Schulen auf und das Versammlungsverbot unter 10 oder 50 oder 100 wieder lockern? Allen mit Antikörper-Nachweis vom Gesundheitsamt wieder freien öffentlichen Zugang gewähren? Wann darf man die Oma wieder besuchen und wer entscheidet das? Es wird nicht einfach.

Auch die Anthroposophische Medizin bereitet sich vor. Hausärzte geben Rat, Medikamente, Gesundheitshinweise und Raum für Gespräch gegen die Angst. Die Akutkliniken in Herdecke, Filderstadt und Berlin bereiten sich mit ihrem lokalen Umfeld auf die Behandlung Schwerstkranker vor. Auch wir brauchen dringend Masken, Schutzanzüge, Schutzbrillen und Handschuhe. Mit großem Ernst und Professionalität stellen sich Pfleger und Ärzte auf ihre Aufgaben ein. Ich habe gesehen, mit welchem Mut und gelassener Ernsthaftigkeit Pfleger und Ärzte in unsere Corona-Ambulanz vom ersten Tag an auf fieberhaft kranke Patienten zugehen, diese freundlich in Empfang nehmen, befragen und behandeln. Ein Kollege hat einen frisch geborenen Säugling zu Hause. Was sagt die Mutter dazu? Junge Assistenzärzte melden sich freiwillig für den Schichtdienst. Sekretärinnen bieten auf vier Telefonleitungen einen Notfall-Informationsdienst an. In bis zu 500 Anrufen pro Tag beantworten sie geduldig alle Fragen und können durch schlichte Information und Sachlichkeit beruhigen und weiter helfen. Welche praktische Zuversicht, Probleme lösen zu können und welche Solidarität!

Gesundheitsratschläge gibt es vielfältige, natürlich und gerade auch aus dem Bereich der Anthroposophischen Medizin. Eine Vielzahl an Medikamenten kann bei Patienten mit mildem Verlauf unterstützend wirken, aber auch für Schwerkranke supportiv zum Einsatz kommen. Viele Ratschläge beziehen sich auf allgemeine Gesundheitsvorsorge, wie an der frischen Luft Spazieren gehen, die Sonne genießen, sich bewegen, gesund ernähren, ggf. mehr auf Gemüse und Bitterstoffe achten, im familiären Kreis Kulturelles gemeinsam tun. Ingwer-Tee, warme Brustwickel aber auch Mediationen und stilles Üben geistiger Inhalte sind Resilienz fördernd, sinnstiftend und gemeinschaftsbildend. Zwar gelten die meisten dieser Regeln auch sonst – jetzt sind sie aber hilfreich, weil die Stärkung des Immunsystems bei viralen Erkrankungen besonders wichtig ist. Gutes denken, Gutes fühlen, Gutes sprechen – wie in so vielen Mantren von Rudolf Steiner empfohlen – kann hier eine wichtige Hilfe sein.

Bisher ist es zu früh, die Lage und Entscheidungen zu bewerten. Dadurch, dass wir eine viel höhere Anzahl an Menschen annehmen können, die unbemerkt die Infektion mit dem Coronavirus bereits durchlaufen haben, kann es sein, das die Sterblichkeitsrate insgesamt wieder sinkt, wenn man sie in das Verhältnis zu allen Menschen setzt, die infiziert waren, aber nicht krank wurden bzw. die Erkrankung Dank medizinischer Hilfe überlebt haben. Die Gesellschaften werden den Weg finden müssen, zwischen Lock down und Lockerung. Die Bewältigung der Schwerstkranken in den kommenden Wochen und Monaten bleibt als Mammutaufgabe bestehen.

Eines aber kann man schon sagen. Dieses weltumspannende Ereignis verändert die Welt und birgt die Chance, den Blick auf uns, unsere Gesellschaften und auf andere Kulturen in Zukunft gemeinschaftlicher und menschlicher zu üben. Sonst heißt es immer, man kann nichts tun. Die Wirtschaft will es so, die Politik ändert es nicht, das ist halt die Welt, die Rahmenbedingungen sind es, die Globalisierung. Man hoffte, als gewissenhafter Klimaschützer durch eine Tupperbox aus Glas, vielleicht mit einem E-Auto oder einem Flug weniger pro Jahr irgendwie davon zu kommen. Und dann sahen wir abends im Fernsehen ungläubig wie die Eisberge der Antarktis ins Meer stürzten und es am 6.2.2020 an der argentinischen Forschungsstation Esperanza Base 18,3 Grad Celsius warm war, so warm wie in Los Angeles[9]. Hat uns Greta schon gezeigt was alles geht, Corona erzwingt die Veränderung. Plötzlich ist die Luft sauber über Wuhan, in Venedig soll man wieder Fische in türkisenem Wasser sehen – die Natur atmet auf. Kurz. Wer misst jetzt wo immer es geht, ob sich die Ökosysteme erholen? Die Straßen sind leer. Wieviel CO2 sparen wir derzeit ein, wenn wir ein halbes Jahr weniger umweltbelastend leben? Wir brauchen diese Daten, für eine künftige sinnvoll eingeleitete und verantwortlich gestaltete Geomedizin. Wenn wir also die Bedrohung der akuten Viruswelle überstanden haben, können wir uns vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrung dieser Tage fragen, ob wir nicht auch die Bedrohung unseres Planeten sehr wohl gemeinsam zielvoll angehen wollen über alle Grenzen hinweg. Corona ein Probelauf?

Zahlreiche Veröffentlichungen in den vergangenen Tagen zeigen, dass die Kraft der Menschheit nicht nur global zu denken, sondern auch global zu empfinden und zu handeln wachsen muss und zur Gretchenfrage dieses Jahrhunderts wird. Der vielbeachtete Sozialwissenschaftler Otto Scharmer z.B. spricht von einer Schule der Transformation, die wir für eine Erneuerung der Zivilisation (civilizational renewal) und zur Heilung unseres Planeten brauchen (planetary healing).[10]

Zurück zu den Krankenhäusern und Pflegekräften, die man jetzt so dringend braucht und die jeder lobt. In seinem Buch »App vom Arzt« empfiehlt uns der Gesundheitsminister, [11] maximal auf digitale Medizin zu setzen, was wir dort tun sollten, wo es sinnvoll ist. Dass wir aber auch in Zukunft tatkräftige Ärzte brauchen, die auf fieberhafte Patienten zugehen und dass wir auch ohne Corona einen systemischen Mangel an Pflegekräften haben, also jenen Beruf missachten, der uns in der Not Zuwendung schenkt, menschliche Anwesenheit spendet und mit fachlicher Kompetenz 24 Stunden am Tag hilft, Probleme zu lösen, daran werden wir uns auch nach der Krise erinnern müssen.

Ein Freund sagte zu mir, es sei wohl das erste Mal, dass an Ostern die Kirchen leer seien, dass die spirituelle Kraft des Osterfestes und die empfundenen Gedanken der Gläubigen der Erde und dem Umkreis fehlen würden, wie noch nie zuvor. Ich verstehe das – und mir kam ein anderer Gedanke. Was wäre, wenn an diesem Ostern die ganze Menschheit tatsächlich christlich handelt, wie noch nie zuvor – egal wie man es in welcher Kultur auch immer nennen mag. Wenn wir uns um die Anderen kümmern und ganz praktisch helfen würden? Dass wir uns länderübergreifend Schwerkranke abnehmen, damit sie überleben; dass wir uns notwendiges Material schicken über politische Systeme hinweg; dass wir dem Sterbenden in wahrhaftiger Begleitung beistehen unabhängig von unserer Religionszugehörigkeit; dass wir in den tiefsten Schichten unserer Menschlichkeit aufgerufen sein werden, wenn wir das Leid der Anderen in anderen Ländern sehen – und dass wir sogar der Natur ungewollt und unbeabsichtigt ein Aufatmen gewähren,  – das könnte auch eine Osterqualität sein: ein Erden-Ostern ungeachtet aller Konfession, ein Ostern der Menschheit.

Zum Autor: Dr. med. Friedemann Schad ist Leiter des Onkologischen Zentrums und Leitender Arzt der Abteilung für Interdisziplinäre Onkologie und Supportivmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin


[1] Der Spiegel 26.3.2020, https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-new-york-gouverneur-andrew-cuomo-sendet-hilferuf-a-b48b939d-9836-40c6-a220-0005844a323d;

[2] Youtube, 24.03.2020, https://www.youtube.com/watch?v=sRtB-McrVQ0

[3] FAZ, 27.3.2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/mehrheit-der-deutschen-mit-dem-corona-krisenmanagement-zufrieden-16698832.html

[4] Statista, 24.03.2020 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1105161/umfrage/corona-krise-umfrage-zum-krisenmanagement-der-bundesregierung/

[5] Statista, Access 30.3.2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157531/umfrage/laender-mit-der-hoechsten-bevoelkerungszahl/

[6] Der Spiegel. 28.03.2020 https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-krise-schweden-verfolgt-sonderweg-im-kampf-gegen-die-pandemie-a-be9a5aef-8f7e-4d68-9448-58681f1d92f1

[7] RBB, 16.3.2020, https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege/berliner-krankenhaeuser-sind-noch-entspannt-kapazitaet-vorhanden.html

[8] Michael T. Osterholm et al. Lancet Infectious Diseases 2012

[9] https://www.br.de/nachrichten/wissen/rekordhitze-antarktis-so-warm-wie-los-angeles,RrnmRhC

[10] Otto Scharmer, Eight Emerging Lessons: From Coronavirus to Climate Action, 16.03.2020 https://medium.com/@sascha.g.berger/acht-aktuelle-lektionen-von-otto-scharmer-vom-coronavirus-zur-klimaaktion-6588e131a519

[11] »App vom Arzt: Bessere Gesundheit durch digitale Medizin«, Herder Verlag 2016, ISBN 9783451375088.