Peripherie

Der atmende Mensch und die Lunge

Patricia Schmidt, Magdalene Denneler

An vielen Stellen seines Werkes schildert Rudolf Steiner die Bedeutung des Atmens für die Gesundheit des Menschen. Auch den Lehrer:innen des ersten Ausbildungskurses der jungen Waldorfschule in Stuttgart vermittelt er eindringlich: Alle Unterrichtstätigkeit solle zunächst auf das Lehren des richtigen Atmens und auf das Lehren des richtigen Rhythmus im Wechsel zwischen Schlafen und Wachen gelenkt werden. (siehe: Allgemeine Menschenkunde, 1. Vortrag)

Eine Aufgabe, um deren Verwirklichung eine Waldorflehrkraft ein ganzes Berufsleben ringen muss! Wie dankbar konnte man da sein für das Miterleben der Fortbildung in Stuttgart zum Thema Lunge und Atem. Über sechs Tage hinweg hatte man die Möglichkeit, dank der durch und durch vom Goetheanismus geprägten, fachlichen und künstlerischen Darstellungen der vier Dozenten in das Geheimnis des Zusammenspiels von Lunge und Atem mit Herz und Pulsschlag einzutauchen.

Vom Wasser aufs Land

So stellte in den morgendlichen Vorträgen Armin Husemann (Leiter der Eugen-Kolisko-Akademie und Arzt für Allgemeinmedizin) die musikalisch-plastische Menschenkunde zu diesem Thema dar: von der Evolution des Lebens und Atmens im Wasser am Beispiel der Fische über das Leben und Atmen auf dem Land bis hin zur embryonalen Entwicklung der Lunge im Menschen, gefolgt von der musikalischen Anatomie und Physiologie der Lunge, der Atmung im Blut und der Atmung im Gehirn. Die Krönung bildete abschließend das große Thema «Weltenwort und Menschenwort» als Ein- und Ausatmung in der menschlichen Biographie.

Der Vormittag wurde durch Plastizieren mit dem Bildhauer Christian Hitsch aus Dornach abgerundet. An vielen Tischen und mit großen Mengen Ton konnte man in die Welt der Formkräfte eintauchen. Mit geschlossenen Augen, in Dunkelheit und Stille, wurde mit einem Stück Ton, das gerade gut in beide Hände passte, eine Kugel geformt. Welche Kräfte formen eigentlich die Kugel? Was muss passieren, damit eine runde Form entsteht? Was ist das Gegenteil einer Kugel, hat nicht jede Form auch eine Gegenform? Was passiert, wenn sich konvex und konkav begegnen? In der Wahrnehmung einer Kastanie oder etwa einer Walnuss kann man gut das Wirken der formenden Kräfte erahnen.

Die erste Hälfte der Nachmittage wurde von dem Musiker Marco Bindelli gestaltet. Seine Aufgabe war es, die Musikalität der Lungenanatomie mit Singen, Rhythmus- und Lauschübungen sowie dem Monochord erlebbar zu machen.

Am Beispiel der Lungenanatomie kann man leicht die Musikalität, die in unserem Körperbau schlummert, nachvollziehen: die linke Lunge hat zwei Lappen, die rechte drei. Teilt man nun die Seite eines Monochords im Verhältnis 2:3, dann erklingt im Verhältnis zum Grundton die Quinte. Beim Gasaustausch in der Lunge an den Lungenbläschen kann man wieder ein Zahlenverhältnis finden: vier Liter Luft/Minute treffen auf fünf Liter Blut pro Minute. Auf einem Monochord, das so geteilt wird, erklingt im Verhältnis zum Grundton die Dur-Terz. Die Lungenbläschen sind der Ort, an dem sich Luft aus der Außenwelt mit dem Blut aus dem Körper trifft. Es ist also ein Ort, an dem Zentrum und Peripherie in einen Austausch gehen und wo das flüssige Blut auf Licht und Luft trifft. Im Herzen findet man ebenfalls Zahlenverhältnisse. Das Blut strömt mit jedem Herzschlag in der Diastole durch zwei Herzklappen ein: rechts durch die drei Segel der Trikuspidalklappe, links durch die zwei Segel der Mitralklappe, also insgesamt durch fünf Klappenteile. Beim Ausströmen aus dem Herzen während der Systole ist es anders. Da strömt das Blut durch insgesamt sechs Klappenteile der Pulmonal- und Aortenklappe hinaus. Dieses Verhältnis 5:6 auf dem Monochord eingeteilt lässt die Moll-Terz erklingen. Es schlummert also in unserem Brustkorb die ganze abendländische Musik!

Das oben Beschriebene mag für das Alltagsdenken zunächst sehr interessant sein, aber erst gesungen, geklatscht und gehört wurden diese menschenkundlichen Inhalte für die Teilnehmer zu einem erlebten Verstehen, das den ganzen Menschen erfassen kann. Die vielen wunderbaren Musikwerke, etwa von Bruckner, Debussy, Bach und Beethoven, die man eindrucksvoll durch das Klavierspiel von Marco Bindelli und Armin Husemann hören konnte, taten ein Übriges, um das Verstehen zu vertiefen.

Den Tagesabschluss bildete jeweils die künstlerische Arbeit mit dem Sprachgestalter und Sprachtherapeuten Serge Maintier. Mit vielen lebendigen Sprachübungen und mit Gedichten des lungenkranken Dichters Chr. Morgenstern sowie von modernen Lyrikern tauchten wir in das Wesen der Sprachgestaltung ein und konnten die Realität des «Atemwindes» und der Atmung erleben. Wenn man bedenkt, dass beim Reizhusten der Überdruck in den haardünnen Bronchiolen mit seinen 900 km/h jeden Orkan weit übertrifft, ahnt man, welche gewaltigen Kräfte in uns wirken und wie wir diese so beherrschen können, etwa um «Danke» zu sagen

Berührend war die Tatsache, dass man wirklich ganz anders in die Sprache eindringt, wenn man sich so beim Sprechen von außen, von der Peripherie her selber hört.

Dur und Moll in der Musik erscheint in der Sprache als Humor und Ernst, Freude und Trauer. Viele Teilnehmer improvisierten und sprachen einfühlsam dann die Gedichte: Eine atmende, hörende Stimmung herrschte im Raum.

Im Garten
atmet die Zeit
freier.

Ich atme ein
ihren Duft.

Er atmet mich aus.

Rose Ausländer

Maintier führte die Teilnehmer mit großer Kompetenz in und durch die Zauberwelt der Vokale und Konsonanten. Dass die Begegnung der eigenen Sprechatemluft mit der Außenluft ein großes Geheimnis ist, konnten wir staunend anhand einiger eindrucksvoller Luftlaut-Strömungsformen aus seinem Forschungsfilm verfolgen.

Wie lebendig anthroposophische Menschenkunde ist, wenn sie inhaltlich, plastisch, musikalisch und sprachlich verwoben erlebt werden kann, hat diese organisch gestaltete Arbeitswoche überzeugend vermitteln können. Die gelebte menschliche Wärme, das begeisternde und humorvolle Miteinander gaben den neu gewonnenen Erkenntnissen einen lichtvollen Glanz und alle sind dem Geheimnis um Atmung und Lunge ein gutes Stück nähergekommen.

Im November 2023 ist eine weitere Fortbildung der Eugen-Kolisko-Akademie zum Thema Herz geplant.

Patricia Schmidt, Dipl.-Übersetzerin. Seit 28 Jahren als Waldorflehrerin im Bereich Fremdsprachen tätig. Waldorfschule Überlingen.

Magdalene Denneler. Medizinstudentin im praktischen Jahr. Zur Zeit: Klinik Arlesheim.

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