Der Lehrer putzt Dir die Schuhe

M. Hubert Schwizler

Die beiden Begriffe »Kultur« und »Kultus« (cultus deorum = Götterverehrung) stammen vom lateinischen Verb colere (= anbauen, pflegen) und umfassen somit alles, was der Pflege (der Verehrung und Zuwendung) bedarf, auch und gerade in den alleralltäglichsten Verrichtungen, Handarbeiten und Tätigkeiten.

Seit Jahren ist es daher Tradition, dass der Lehrer im Hofgut Rössle am Vortag vor Nikolaus allen Schülern und Mitarbeitern die Schuhe putzt. Auf manche Kinder und Jugendliche wirkt dies geradezu »ansteckend«. Denn jedes Jahr gibt es einige, die schon nach kurzer Zeit des Zuschauens fragen, ob sie denn auch ein Paar Schuhe putzen dürfen – und hinterher staunen: »Die sehen ja wieder aus wie neu!« - (Man erzählt sich gar, dass solcher Art geputzte Schuhe in der folgenden Nacht mit einer besonderen Füllung rechnen dürfen ……!)

Unter den Meistersängern und Mystikern, die dem Geheimnis des Menschseins auf der Spur waren, gab es immer Menschen, die sich besonders den Füßen und Fußkleidern der Menschen widmeten – die Schuhmacher Hans Sachs (1494 - 1576) und Jakob Böhme (1575 - 1624) zum Beispiel oder der Dichter Christian Morgenstern (in: Die Fußwaschung, 1914).

Auch in den wunderbaren Erzählungen Lew Tolstois sind es häufig Schuster, die sich als besonders barmherzig erweisen und durch ihre Tätigkeit wesentliche Erkenntnisse über den Menschen gewinnen.

Nicht zuletzt war die Fußwaschung als rituelle Handlung im Orient ein Symbol für Gastfreundschaft. Noch heute ist sie ein wesentlicher Bestandteil in der christlichen Liturgie, der auf die Salbung in Bethanien durch Maria Magdalena und die Fußwaschung der Jünger durch Christus beim letzten Abendmahl zurückgeht.

»Wenn ich Dich nicht wasche, so hast Du kein Teil an mir.« – Joh 13,8

Neben dem Sprechen und Denken ist es das aufrechte Gehen, das den Menschen in besonderer Weise auszeichnet. Hände und Arme sind vom Tragedienst befreit und können somit Welt gestalten, zum Wohl oder Wehe der Menschen in Freiheit wirken. Dies ist jedoch nur möglich, indem die Beine und Füße sich »opfern« und uns ein Leben lang durch die Welt tragen, immerzu unserem Schicksal entgegen. Unseren Entschlüssen folgend tragen sie uns dort hin, wo uns dieses oder jenes Gute oder Schlimme widerfährt, wo dieses oder jenes Gute oder Schlimme von uns selbst vollbracht wird.

In der Regel bringen wir unseren Füßen allerdings nur eine geringe Aufmerksamkeit entgegen und pflegen sie viel weniger als unsere Hände. Ihr Tragedienst entzieht sich auch stärker unserem Bewusstsein als die Tätigkeit und Regsamkeit unserer Hände, findet er doch in einer Region statt, die zumeist außerhalb unseres Blickfeldes liegt. Die menschliche Hand ist letztlich nur zu verstehen in der Zusammenschau mit den Werken, die sie hervorbringt, mit den Taten, die sie vollbringt. Sie ist ein Organ der Freiheit. Sie (ver-)dankt dies dem Fuß.

Fußkleider sind heute in der Mehrzahl billigste Massenware. Eine Pflege und Wertschätzung findet kaum noch statt; bei Verschleiß erfolgt umgehend »Entsorgung«. Eine (demütige) Auseinandersetzung mit dem eigenen LebensLAUF (!), wie diese sich in »meditativer« Schuhpflege durchaus einzustellen vermag, bleibt aus.

In der bewussten Zuwendung zu unseren Füßen – in einem wärmenden Fußbad zum Beispiel (für die Schüler im Hofgut Rössle übrigens jeden Freitag vor Unterrichtsbeginn) oder im Reinigen des Fußkleides – mag daher etwas von jener rituellen und kultischen Kraft aufleben und wirken, die zur Versöhnung mit dem eigenen Schicksal beitragen kann und den Dank für unsere Freiheit, für unser Menschsein zum Ausdruck bringt. – Man wendet sich dem Niedrigsten und Tiefsten zu, um es zu erhöhen, um es zu erlösen.

M. Hubert Schwizler: Jahrgang 1964; 20 Jahre lang Klassen- und Religionslehrer an einer Waldorfschule in Freiburg; 2002 Gründungsmitglied des Vereins Timeout e.V. (heute: Kinder- und Jugendhilfe timeout gGmbH Breitnau); seit 2012 schulische Leitung der autonomen Außenklasse im Hofgut Rössle und Pressereferent; ferner verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit und »Kultur im Rössle«.

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