Krisen schärfen den Blick für das Wesentliche – Corona Shutdown als transformierender Lernprozess

Ulrike Sievers

In den ersten Wochen des Corona-Shutdowns ging es erst einmal darum, E-Mail-Verteilerlisten zu erstellen, Padlets einzurichten, Moodle zu installieren und über den Sinn und Zweck sowie die Datensicherheit von Video-Konferenzen zu diskutieren. Mittlerweile haben sich alle irgendwie, mehr oder weniger gut, zurechtgeruckelt. Lehrkräfte haben, durch die schiere Notwendigkeit getrieben, mittels learning-by-doing und unter Zuhilfenahme des einen oder anderen YouTube-Videos ihre Medienkompetenz vorangetrieben, und ein relativ verlässlicher Informationsfluss hat sich etabliert. Die einen bevorzugen E-Mails, andere haben einen eigenen YouTube Kanal installiert, Videos und Audio-Dateien werden erstellt und verschickt, Fotos und Pdf-Dateien auf Online-Pinnwände geladen. Einige Schulen sind sogar dabei, Moodle für sich zu installieren. Da kamen die Osterferien vielerorts gerade Recht und gaben den Lehrkräften etwas Zeit, sich in das neue Lern Management System einzuarbeiten. Gleichzeitig beobachten wir, dass es Familien gibt, in denen Smartphones und Computerzugang für jeden nicht selbstverständlich sind; dass es Eltern gibt, die nicht wollen, dass ihre Kinder vor dem Bildschirm sitzen zum Lernen oder die die vorhandenen Laptops im Home Office selber brauchen; und dass nicht in jeder Familie jemand in der Lage ist, die gemalten Bilder oder geschriebenen Hausaufgaben als Bild an die Lehrer zu schicken.

Schon bald folgte dann die Erkenntnis, dass viele Eltern sich durch die Schwemme des gutgemeinten Materials, das ihnen da ins Haus flatterte, schlichtweg überfordert fühlten. Bei zwei, drei oder gar vier Kindern summieren sich die Aufgaben schnell. Eltern stöhnten über leere Druckerpatronen und bis zu 20 auszudruckende Arbeitsblätter pro Tag. Viele unserer Waldorf-Eltern sind zudem selber im Home Office gefordert oder müssen außer Haus ihrer Arbeit nachgehen. Da können sie nicht auch noch die Hausaufgaben ihrer Kinder beaufsichtigen oder gar die eventuell unmotivierten Kinder und Jugendlichen bei der Stange halten. Gleichzeitig gibt es auch Eltern, die meinen, dass ihre Kinder unterfordert seien und die fragen, ob wir nicht gute Apps zum Sprachenlernen empfehlen könnten.

Die letzten Wochen waren eine reiche Lernerfahrung für uns alle – besonders für Waldorfpädagogen. Nun dürfen wir reflektieren und daraus lernen. Nach der persönlichen Bewertung und Auseinandersetzung ist das »Zusammentragen von Eindrücken« gefragt. Diesem Schritt dienen zum Beispiel die deutsch- und englischsprachigen elewa-online-Kurse Waldorf digital: gemeinsam kreativ gestalten / Digital Waldorf: cooperative, creative, global, die dazu einladen, Erfahrungen miteinander auszutauschen und voneinander zu lernen. Eine ähnliche Wirkung hatte die von Paulino Brener initiierte Online Konferenz für Sprachlehrkräfte aus aller Welt. Eingeladen waren alle auf der WLTWS-Website registrierten Sprachkollegen. Treffen wie diese eröffnen die Möglichkeit, die eigene Perspektive durch Berichte und Erfahrungen aus anderen Schulen oder gar anderen Ländern zu bereichern. Sie bieten damit eine Möglichkeit, über die eigene Erkenntnis hinaus allgemeinere Grundsätze abzuleiten; aufmerksam für das zu werden, was jetzt wirklich zählt, was wir aus all dem Erlebten lernen können. Ein multiperspektivisches Bild hat den Vorteil, dass die eigenen blinden Flecken besser beleuchtet werden. Wir können nur hoffen, dass das zur Zeit an so vielen Stellen spürbare Interesse aneinander und die Bereitschaft miteinander und voneinander zu lernen, auch nach der Krise als Impuls der Veränderung erhalten bleibt.

Bei der Urteilsbildung versuchen wir aus der Beobachtung des Besonderen das Allgemeine abzuleiten. Im Oberstufenunterricht stellen wir dabei in der Regel den aus der Beobachtung der Jugendlichen abgeleiteten Grundsätzen und Regeln noch eine wissenschaftliche Perspektive ergänzend zur Seite. In diesem Sinne verstehe ich Martyn Rawsons Artikel Online Lernen aus der Perspektive einer Waldorflerntheorie, in dem er den Versuch unternimmt, kollegiale Hilfestellung zu leisten in dem Bemühen, auch in dieser ungewohnten Situation die Waldorf-Prinzipien des Lernens nicht aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht kann uns gerade die jetzige Situation dabei helfen, den Blick für die einzelnen Schritte eines transformierenden Lernens zu schärfen. Davon könnten unser Unterricht und damit vor allem die Kinder und Jugendlichen, auch nach Corona, profitieren.

Immer wieder ist derzeit die Rede davon, dass das Leben und die Gesellschaft »hinterher« verändert sein werden. Ob das auch für die Waldorfpädagogik gilt, wird von uns abhängen. Mich beschäftigen in diesem Zusammenhang eine Reihe von Aspekten, die ich momentan sowohl bei der Vorbereitung meines »Fernunterrichts« für die Schule, als auch bei der Gestaltung eines Onlinekurses, der Studenten des Hamburger und Kieler Seminars im Rahmen ihrer Fachdidaktik und -methodik-Ausbildung zur Verfügung steht, erfahre.

Da ist zunächst das Erleben des fehlenden »leeren Raums« – um mit einer Metapher des britischen Theaterregisseurs Peter Brook zu sprechen. Natürlich habe ich bei der Vorbereitung meines Unterrichts, auch in dieser Situation, die spezifische 10. Klasse vor Augen, für die ich gerade ein Padlet, eine Online-Pinnwand, als Arbeitsgrundlage gestalte. Aber wenn ich dann das tägliche Video drehe, dann schaue ich eben nicht in lebendige Gesichter, sondern in eine tote Kamera. Es entsteht nicht der Raum zwischen Menschen, der unhörbar von der gegenseitigen Wahrnehmung, von Erwartungen, Ängsten, Vorfreuden und Fragen vibriert, und der mich im Unterricht inspiriert, mir immer neue Ideen einflüstert und mich neue Wege finden lässt. Ich bin irgendwie abgeschnitten – und damit herausgefordert, mir alternative Wege auszudenken, wie diese unsichtbare Verbindung, die ja auch den Kindern und Jugendlichen beim Lernen hilft, auf anderen Wegen etabliert werden kann. Meine Kollegen der Unter- und Mittelstufe haben da viele schöne Ideen entwickelt. Für die Oberstufe müssen wir unsere eigenen Lösungen finden. Wie kann ich den Austausch zwischen den Jugendlichen fördern; Partnerarbeit per Telefon arrangieren; Präsentationen im Onlineformat organisieren; zu Austausch von Gedanken und Sorgen einladen und meine Schülerinnen und Schüler dabei angemessen begleiten? Was von dem, was ich jetzt lerne, werde ich auch später bereichernd in meine Unterrichtspraxis einbauen können?

Auch bei Erwachsenen spielt der Austausch eine wesentliche Rolle für ein transformierendes Lernen. Wenn ich also Online-Angebote gestalte, ist es nicht mit der Wissensübermittlung getan. Es reicht nicht, Vorlesungen zu halten, auch zu Reflexion und Gespräch will eingeladen sein. Wir müssen uns also Gedanken machen, wie das in einem Fernlern-Kurs gestaltet werden kann. Wenn wir sinnvolle Onlineformate entwickeln wollen, müssen wir uns auch mit den verschiedenen Aspekten einer Onlinedidaktik auseinander setzen. Gleichzeitig dürfen wir auch hier die individuellen häuslichen Situationen und Herausforderungen der angehenden Lehrkräfte – zum Beispiel Studium und Kinder unter einen Hut zu bringen – nicht ignorieren.

Bei der zweiten, mindestens ebenso drängenden Frage geht es um Motivation und Relevanz. Wenn ich beobachte, dass nur die Hälfte der Schüler die Aufgaben regelmäßig bearbeitet oder wenn Eltern berichten, dass sie ihre Kinder an den Schreibtisch zwingen müssen, dann lässt sich das nicht (nur) mit unruhigen Kindern oder mangelnder Willensstärke von Jugendlichen erklären, sondern wirft auch Fragen an die Lebensnähe und die Relevanz dessen auf, was da von den jungen Menschen getan und gelernt werden soll.

Lernen soll Freude machen, Kinder sollen motiviert sein, weil das, was sie lernen, mit ihrem Leben zu tun hat, weil es latente Fragen beantwortet, weil sie es als verstehbar, machbar und für sich sinnvoll erleben. Ich sehe mich durch die neue Situation in besonderem Maße herausgefordert, meine oftmals seit Jahren praktizierten und bewährten Unterrichtsinhalte und Konzepte neu zu hinterfragen. Haben die Themen etwas mit der Realität der Jugendlichen zu tun? Schließen sie an das häusliche Umfeld der Kinder an? Diese Fragen der Relevanz und Lebensnähe können auch in Zeiten der echten Schule nicht oft genug gestellt werden.

Auch die Frage der Differenzierung und Inklusion stellt sich neu. Gelingt es uns wirklich, immer alle mitzunehmen? Und erhalten alle die Chance, jeden Lernschritt ausreichend lange und oft zu wiederholen, damit das Lernen ein transformierendes Erlebnis werden kann? Inhalte lassen sich wesentlich leichter verschicken als lebendige Lernerlebnisse kreieren, aber endlose Arbeitsbögen zum Üben verlieren irgendwann ihren Reiz. Eltern berichten, dass den Kindern der Rhythmus fehlt, dass sie Bewegung brauchen und das gemeinsame Tun. Wie knüpfen wir also an die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen an, stellen praktische und relevante Aufgaben, die auch in einer ungewöhnlichen Situation als sinnvoll und gesund erlebt werden? Vielleicht können die jetzt entwickelten Ideen ja später die Debatte um sinnvolle Hausaufgaben beleben. Die vielerorts gemachte Beobachtung, dass wir nicht alle Kinder und Jugendlichen erreichen, dass es nicht allen gelingt, selbstständig ins Tun zu finden, lässt verschiedene Interpretationen zu. Einfach nur von mangelnder Willenskraft zu sprechen, wird der Komplexität der Sache jedenfalls nicht gerecht. Viele Kollegen konnten beobachten, wie schwer es den Schülern fällt, Arbeitsanweisungen zu lesen, zu verstehen und umzusetzen und dass es oft an Wissen und Verständnis für adäquate Methoden des selbstständigen Arbeitens fehlt. Dies sind, meine ich, wichtige Hinweise für ein Arbeitsfeld, das wir zukünftig in unserem Unterricht noch stärker zu berücksichtigen haben.

Kollegen berichten über ungewohnte Kommunikationskanäle mit ihren Schülern. Dabei entstehen oft neue Räume der gegenseitigen Wahrnehmung und individuellen Begegnung. Bei aller Vorsicht gegenüber zu viel Nähe wird doch deutlich, dass wir die familiäre und soziale Situation, in der sich unsere Schüler, Studenten oder Kollegen befinden, nicht ignorieren können. Wie begegnen wir unseren Mitmenschen, die total beengt wohnen, die Existenzangst der Eltern miterleben, auf kleinere Geschwister aufpassen müssen; Home Office, eigene Ausbildung und Kinder unter einen Hut zu bringen versuchen; Angst haben, verunsichert sind, nicht wissen, wohin mit den eigenen Sorgen? Nehmen wir das alles wahr? Gelingt es uns, durch unsere Unterrichtsangebote Räume zu schaffen, wo all dies sein kann und auch angesprochen werden darf? Bieten wir Ausdrucksmöglichkeiten an, zum Beispiel in Form von Aufgaben, die zum Geschichten erfinden, Bilder malen, Gedichte schreiben, zum Gestalten und aber auch zum Recherchieren und Forschen einladen?

Die derzeitige Situation gibt uns die Möglichkeit, Kollegen, Eltern und Schüler von anderen Seiten zu erleben. Bei dieser katapultartigen Bewegung in die digitale Welt zeigen sich Fähigkeiten, die vorher scheinbar keine Rolle spielten. Wir erleben, dass Kollege X spontan ein paar Videos aufnimmt, um Schüler und Lehrkräfte unterhaltsam in Bewegung zu bringen. Kollegin Y denkt sich Vokabelspiele aus, bei denen die Kinder voller Begeisterung Möbel, Gegenstände und Bewohner ihres häuslichen Umfeldes mit Post-Its bekleben, auf denen englische oder spanische Wörter stehen. Voller Freude werden Fotos gemacht, die die Eltern ihr dann schicken.

Die Situation hat sich verändert; damit sind auch die Kriterien für unsere Bewertung andere geworden. Eine Chance für Flexibilität? Wir dürfen durch einen Schubs ins kalte Wasser einen Teil der digitalen Welt erforschen, dürfen Vor- und Nachteile verschiedener Online-Kanäle und Tools erkunden und können vielleicht ein Stück davon mitnehmen in die Welt »danach«. Denn, wie wir den Gesprächen mit Eltern und Jugendlichen entnehmen, sind unsere Schüler eben ohnehin in dieser anderen Welt unterwegs. Wäre da die frisch-gemachte Erfahrung nicht ein willkommener Anlass, um die Debatte über die Gefahren digitaler Medien durch einen Austausch über sinnvolle Einsatzmöglichkeiten und hilfreiche Instrumente des Lernens aus der digitalen Welt zu ergänzen?

Auch können wir direkt erleben, dass Online-Unterrichten eben keine Eins-zu-Eins-Übersetzung herkömmlicher Materialien und Methoden ist. Wie bei jeder Umwandlung von einem Medium in das andere – etwa der Verwandlung einer Geschichte in ein Bild oder der Umsetzung eines Buches in eine Theaterszene oder einen Film – brauchen wir ein Verständnis für beide Medien, wenn der Prozess gelingen soll. Im Bereich der digitalen oder Online-Didaktik gibt es noch einiges für uns zu lernen – was dann wiederum auch das Bewusstsein für das schon Bekannte und Praktizierte schärft; ein Prozess, der den zukünftigen Oberstufenschülern, Studenten und Kollegen durchaus zu Gute kommen könnte.

All das eröffnet freie Räume und bietet viele Chancen. Wir könnten die uns jetzt abverlangte Flexibilität willkommen heißen, unsere bisherigen, oft festen Urteile hinterfragen. Ich habe das Gefühl, dass ich lange nicht mehr so intensiv und tiefgreifend lernen durfte. Über mich selbst, über die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Menschen, die mich umgeben, über Waldorfpädagogik und den Sinn von Gemeinschaften des Lernens. Und ich wünsche mir, dass wir diese Chance zur Veränderung ergreifen, anstatt zurückzugreifen auf »the same procedure as before«.

(Hinweis der Autorin: Die Verwendung von ausschließlich einer Endung bei Berufsbezeichnungen, die alle anderen Gender einbezieht, ist dem Sprachstil der Erziehungskunst angepasst.)

Links: www.e-learningwaldorf.de | www.wltws.org

Siehe auch: Online lernen aus der Perspektive einer Waldorf-Lerntheorie