Atmosphärisches lässt sich im Internet nicht gut vermitteln

Christiane Neubauer

Schnupperstunden im Klassenzimmer, Experimente im Chemiesaal, Geografie-Quiz im Pausenhof und selbstgebackenen Kuchen in der Cafeteria – NORMALERWEISE lassen sich Schulen jedes Jahr am Tag der offenen Tür viel einfallen, damit sich Familien von Erst- oder Viertklässlern buchstäblich ein Bild von jenem Ort machen können, an dem die Kinder in den kommenden Jahren viel Zeit verbringen werden. Und das ist auch gut so. Schließlich soll die Schule idealerweise zum Kind und das Kind zur Schule passen. Doch was ist zu Corona-Zeiten schon NORMAL?

Nichts – das mussten im Herbst jene Eltern feststellen, die nach einer geeigneten Schule für ihre ABC-Schützen suchten. Und damit sahen sich im Februar und März auch viele Eltern von Viertklässlern konfrontiert, als sie vor der Entscheidung standen, welche weiterführende Schule sie für ihr Kind auswählen sollen. Denn die meisten Schulen haben ihre Tage der offenen Tür bzw. ihre Infoveranstaltungen abgesagt, und das, obwohl es keine entsprechenden staatlichen Vorgaben gab. »Im vergangenen Jahr sind mehr als 3000 Interessierte gekommen. Uns war klar, dass wir unter Corona-Bedingungen das nicht im Griff haben können«, begründete zum Beispiel der Schulleiter des Adorno-Gymnasiums in Frankfurt, Mathias Koepsell, die Entscheidung. Stattdessen setzen die meisten Schulen auf digitale Alternativen z.B. in Form virtueller Rundgänge und anderer Präsentationen auf der Webseite, auf Videokonferenzen mit Lehrerinnen und Lehrern und/oder der Schulleitung. Klar ist aber auch: Atmosphärisches lässt sich im Internet nicht gut vermitteln. Aber genau das ist meist maßgeblich für die Schulwahl.

Dass das eine das andere nicht ausschließen muss, ja, dass eine Präsenzveranstaltung möglich ist und sich durch digitale Angebote wunderbar ergänzen lässt, diese Erfahrung hat im Herbst 2020 die Rudolf-Steiner-Schule Mönchengladbach gemacht. Dort hatte man sich entschlossen, interessierten Eltern vor den Herbstferien einen Tag der offenen Tür unter Corona- Bedingungen anzubieten – als einzige Schule im Kreis.

Klasse statt Masse, war die Devise. Denn klar ist, wer in einer Pandemie Gäste in der Schule begrüßen will, muss vor allem sicherstellen, dass die Zahl der Besucher eingeschränkt wird. Deshalb wurden Eltern, die bereits Kinder an der Schule haben, gebeten, zuhause zu bleiben und an diesem besonderen Tag der offenen Tür jenen Eltern und potentiellen Schülern den Vortritt zu lassen, die die Schule noch gar nicht kennen. Um Kontakte im Schulhof und in den Räumlichkeiten möglichst gering zu halten, wurde außerdem die Zahl der anwesenden Schülerinnen und Schüler deutlich reduziert. Ob Schnupperunterricht im Klassenzimmer, Vorführungen beim Werken, Handarbeiten oder im Gartenbau: Anstelle einer kompletten Klasse war nur ein kleiner Teil der Schülerinnen und Schüler anwesend. So blieb überall im Wortsinn genug Raum, um die Abstandsregeln zu wahren. Auch die stets sehr beliebten Schulführungen durch Schüler und Lehrer fanden diesmal in Kleingruppen statt. 

Schülerinnen und Schülern der elften Klasse übernahmen die verantwortungsvolle Aufgabe der Einlasskontrolle und standen auch auf dem Schulgelände als Orientierungshelfer zur Verfügung. Alle Besucher mussten sich vor dem Zugang aufs Schulgelände in eine Liste eintragen, mit deren Hilfe das Gesundheitsamt Kontakte hätte zurückverfolgen können. Die Schüler stellten außerdem sicher, dass sich nicht zu viele Besucher gleichzeitig auf dem Schulgelände aufhielten. Eine Maßnahme, die sich als richtig und wichtig erwies, denn der Einladung zum Tag der offenen Tür folgten letztlich wesentlich mehr Besucher als erwartet.

Da man, wie gesagt, zunächst von relativ wenigen Besuchern ausging, entschied sich der Medienpädagoge Franz Glaw dafür, alle Angebote und Aktionen am Tag der Offenen Tür zu filmen, mit dem Ziel, einen Zusammenschnitt des Filmmaterials allen interessierten Eltern, die nicht zum Tag der offenen Tür kommen wollten oder konnten, via Internet zugänglich zu machen. Die Schule konnte den Regisseur Christian Kapp für das Projekt gewinnen. Kapp, der u.a. für das ZDF und Kika arbeitet, gehört zur Elternschaft der Waldorfschule Düsseldorf. Außerdem mit im Boot war die preisgekrönte Dokumentarfilmerin und Kamerafrau Eva Maschke. »Ziel dieser Kooperation war aber nicht, einen perfekten Film zu machen«, betont Glaw. »Vielmehr wollte ich medienaffinen Schülerinnen und Schülern unserer Schule die Gelegenheit geben, an der Produktion dieses Films mitzuwirken und von den Profis zu lernen.« Das Ergebnis ist unter https://www.rss-mg.de/1 zu sehen.

Die Bilanz fällt insgesamt positiv aus. »Wir haben teils verblüffende Erfahrungen gemacht«, fasst die Schulsekretärin Claudia Kaiser ihre Eindrücke zusammen. Obwohl aus der Not geboren, habe die Entscheidung nur »neue« Eltern zu empfangen, einen unerwartet positiven Nebeneffekt gehabt. »Für die Lehrer war es viel einfacher, mit den Besuchern in Kontakt zu kommen, weil sie nicht, wie sonst üblich, in Gespräche mit Eltern verwickelt waren, die sie bereits kennen. Die nutzen den Tag der offenen Tür nämlich gern, um Fragen aus dem Schulalltag zu klären, obwohl es dafür eigentlich auch Elternsprechstunden gibt.«

Neu war für das Kollegium auch die Erkenntnis, wie angenehm es sein kann, den Schnupperunterricht mit nur einem Teil der Schüler zu absolvieren. »Es gab nicht nur deutlich mehr Platz für Gäste in den Klassenzimmern, auch der Unterricht lief viel entspannter ab und es blieb mehr Zeit, um auf Fragen der Besucher einzugehen«, war eine oft gehörte Rückmeldung aus dem Kollegium. Auch bei den beteiligten Schülerinnen und Schülern ist den Lehrern an diesem Tag der offenen Tür unter Corona-Bedingungen etwas positiv aufgefallen: »Ich habe keine Schülerinnen und Schüler erlebt, die noch vor dem Ende der Veranstaltung gefragt haben: Darf ich schon nach Hause gehen?«

Zur Autorin: Christiane Neubauer, Redakteurin und freie Journalistin, Mutter eines Waldorfschülers in der 10. Klasse.