Die Virus-Väter

Heiner Barz

Dass Deutschland mit der Berliner Charité einen höchst angesehenen medizinischen Forschungskomplex nebst angeschlossenem Krankenhaus hat, konnte das deutsche Publikum in der ihr gewidmeten TV-Serie (bisher 3 Staffeln seit 2017) bestaunen. Die erste, im späten 19. Jahrhundert spielende Staffel zeigte anschaulich die Polarisierung zweier Auffassungen von Krankenversorgung: Einerseits die Pflege, die als gottesfürchtig, schicksalsergeben und rückständig gezeichnet wurde. Andererseits der medizinische Fortschritt, der sich in neuen Operationsmethoden (z.B. Blinddarm-Entfernung) und der Suche nach bakteriologischen Krankheitsursachen äußerte. Mindestens genauso interessant ist eine zweite, die damaligen Koryphäen spaltende Polarisierung. Nämlich die zwischen Rudolf Virchow, der sein Hauptaugenmerk auf die oft miserablen Wohn-, Hygiene- und Arbeitsverhältnisse als Krankheitsursachen legte und Robert Koch, Paul Ehrlich und Emil von Behring, die sich der Suche nach bakteriologisch bedingten Infektionen verschrieben und fieberhaft nach Gegenmitteln zur Bekämpfung suchten.

Robert Koch (1843-1919) erscheint in der TV-Serie als großer Forscher, selbstloser Experimentator und unkonventioneller Liebhaber einer um Jahrzehnte jüngeren Schauspielerin, für die er seine Ehefrau verlässt. Koch war der dominierende Vertreter der medizinischen Bakteriologie. Im Reagenzglas oder im Tierexperiment entwickelte Robert Koch die grundlegenden Untersuchungstechniken und identifizierte die Erreger von Krankheiten wie der Tuberkulose und der Cholera. Was in der Spielfilmvariante nicht vorkommt, zeigt die Doku ZDF-History (1) in einer Folge der Reihe »Die großen Skandale der Medizin« (2012, noch immer in der Mediathek, ab min 36:20). Dort erfährt man etwas über die hemmungslosen Experimente mit unterschiedlichen Giftmixturen an Hunderten von Menschen in Schwarzafrika, die Robert Koch 1905 im heutigen Tansania verantwortete und mit denen er vor allem wissenschaftliche Erfolge produzieren und seinen Ruhm mehren wollte. Prof. Dr. med. Philipp Osten vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Uni Hamburg sowie Prof. Dr. Volker Roelke, Institut für Geschichte der Medizin, Uni Gießen, erläutern in dieser beklemmenden Dokumentation, dass »das Wohlergehen der einzelnen betroffenen afrikanischen Menschen für Koch völlig nachrangig« war. Damit wird das offizielle Bild nachhaltig in Frage gestellt, das in Robert Koch schon im Nationalsozialismus vor allem den deutschen Wunderheiler sehen wollte, der uneigennützig und erfolgreich sämtlichen Bazillen zu Leibe rückt. In Ostafrika widmete sich Koch der Schlafkrankheit, übertragen durch den Stich der Tsetsefliege. Tausenden von Kranken wurden von Kochs Assistenten arsenhaltige Mittel verabreicht, die mehr schadeten als nutzten. Sie waren so hoch dosiert, dass die Versuchsopfer blind wurden und Lähmungen erlitten. Dessen ungeachtet steigerte man die Dosierung, um die gerade noch nicht tödliche Dosis zu ermitteln. Um leichteren Zugang zu den Kranken zu haben, wurden sie von ihren Familien getrennt und in sogenannten Konzentrationslagern isoliert. 1.200 Infizierte wurden gewaltsam in die Lager gebracht. Dort wurde die giftige, oft tödliche Medizin an ihnen ausprobiert. Ohne Heilerfolg. Jeder zehnte verstarb unter der Therapie. »Eine billige Versuchsreihe« konstatiert Prof. Osten. Später wurde ein wirksames Mittel gegen die Krankheit gefunden – und zwar ganz ohne Menschenversuche. Selbst nach damaligen moralischen Vorstellungen lagen derartige Versuchsreihen jenseits aller medizinethischen Standards.

Eine zweite skandalöse Episode aus Robert Kochs Leben, nämlich der sogenannte Tuberkulin-Skandal, kommt im Charité-Historienfilm immerhin kurz vor. Tuberkulose stellte im Kaiserreich ein großes Problem dar. Umso euphorischer reagierte die Öffentlichkeit, als Koch auf dem »Zehnten Internationalen Medizinischen Kongress« 1890 in Berlin ein Heilmittel vorstellte, das er Tuberkulin nannte. Die Zusammensetzung hielt er geheim – die Öffentlichkeit musste auf den großen Namen vertrauen und reagierte enthusiastisch. Koch wurde gefeiert und in vielen deutschen Städten erwartete man aufgeregt und mit Beifall die Ankunft des neuen Wundermittels.

Schon die Ankündigung löste Begeisterungsstürme aus, berichtet ein Zeitgenosse, weil von dem Moment an, wo Robert Koch über eine Tatsache dieser Tragweite berichtete, dieselbe existieren müsse. Was folgte, war der sogenannte Tuberkulinrausch, der nach kurzer Euphorie in ein Desaster münden sollte. Den Gründen für Kochs Verhalten geht der Historiker Christoph Gradmann in seinem Buch »Krankheit im Labor« (Göttingen 2005) nach. »Sorgfältig präpariert er die Mängel jener ›reduktionistischen Strategie‹ heraus, die Infektionskrankheiten vollständig vom Krankenbett ins Labor verlagern und ›den kranken Menschen durch ein Tiermodell der Krankheit zu ersetzen‹ suchte«, so Volker Stollorz in der FAZ vom 27.09.2005: »Medizingeschichte: Der große Irrtum des Doktor Koch.«

Koch versuchte, aus seiner Entdeckung kommerziellen Gewinn zu schlagen, was ihm übelgenommen wurde, da er mit staatlichen Mitteln an einem staatlichen Institut geforscht hatte. Vom Kultusministerium forderte er ein eigenes Institut ausschließlich zur Produktion von Tuberkulin und veranschlagte den jährlich zu erwartenden Gewinn auf 4,5 Millionen Mark. Auch deutete er an, dass ihm bereits Angebote aus den USA vorlägen.

Nachdem Tuberkulin auf dem Markt war, häuften sich in der Fach- und Publikumspresse zunächst Berichte über Heilerfolge, dann folgten erste Meldungen von Todesfällen. Sie wurden noch nicht allzu ernst genommen, weil die Ärzte immerhin mit schwerkranken Patienten experimentierten. Rudolf Virchow gelang es jedoch, bei der Obduktion von Leichen nachzuweisen, dass Tuberkulin die Bakterien nicht abtötete und latent vorhandene Bakterien sogar aktivierte. Robert Koch sah sich gezwungen, die Zusammensetzung seines Geheimmittels aufzudecken, wobei sich herausstellte, dass er selbst nicht genau wusste, was es enthielt.

Im Nachhinein kann man Koch immerhin eine »geschickt inszenierte Markteinführung« seines nicht nur wirkungslosen, sondern gefährlichen Tuberkulins bestätigen. Denn alle negativen Erfahrungen, alle skeptischen Hinweise von Kollegen wurden von Koch ausgeblendet und mit der öffentlichen Demonstration von Tuberkulininjektionen an Kranken in Anwesenheit hochrangiger staatlicher Prominenz gewann Koch Aufmerksamkeit weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Die internationale Tagespresse erging sich in täglichen Hymnen über das »Kochsche Heilverfahren«.

Berlin verwandelte sich »zum Wallfahrtsort für Ärzte aller Länder«. Nach dem Offenkundigwerden der Misserfolge, ja der tödlichen Verläufe der vielgepriesenen Tuberkulin-Kuren, wurde auch über die Beweiskraft der anfänglichen Heilerfolge neu nachgedacht. Der Verdacht lag nahe, dass man insbesondere leichte Fälle, die sonst gar nicht als behandlungsbedürftig eingestuft worden wären, »geheilt« hatte.

Trotzdem blieb Koch auch in der Bundesrepublik ein sehr präsenter Bezugspunkt, was sich nicht zuletzt im bis heute nach ihm benannten Robert-Koch-Institut als oberster deutscher Behörde für Krankheitsüberwachung und Infektionsmonitoring zeigt. Koch starb übrigens 1910 in Baden-Baden, nachdem er 1905 den Nobelpreis für seine Entdeckung der »Tuberkulose-Bazillen« erhalten hatte. Seine Verdienste um die biochemische Analyse von Krankheitsursachen sind unbestritten. Auch war ihm Humor, eine ganz wichtige Ressource der ärztlichen Heilkunst, durchaus nicht fremd: »Wenn ein Arzt hinter dem Sarg eines Patienten geht, folgt manchmal tatsächlich die Ursache der Wirkung.«

Der etwas ältere Rudolf Virchow (1821-1902) forschte und lehrte ebenfalls (seit 1843) an der Charité und war als Pathologe eine ihrer prägenden Figuren. Sein Wirken freilich bezog sich nicht nur auf die Erforschung der biochemischen Vorgänge im menschlichen Körper – obwohl er mit seiner Zellularpathologie ebenfalls einen Meilenstein der Medizingeschichte lieferte. Vielmehr war er ein vielfältig gesellschaftlich, politisch und sozial engagierter Mediziner. Schon als junger Arzt war er 1847/48 anlässlich einer Flecktyphusepidemie nach Oberschlesien als sachverständiger Gutachter geschickt worden. Er beschäftigte sich dort vor allem mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation der erkrankten Menschen und dokumentierte die unmenschlichen Arbeits- und Wohnverhältnisse, die katastrophale Ernährungssituation. Und er machte die preußische Regierung verantwortlich für die Lage der armen und hungernden Bevölkerung. Er forderte »Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand«. Der Obrigkeit war diese Kritik zu direkt und er wurde suspendiert, erhielt aber bald einen Ruf nach Würzburg, später erneut nach Berlin. 1852 reiste er im Auftrag des Ministeriums zur Untersuchung des Gesundheitszustands der Bewohner in den Spessart und legte der Regierung als Ergebnis das Memorandum »Die Noth im Spessart« vor. Er betonte darin, dass es darauf ankomme, die konkreten Lebensverhältnisse und Alltagsbedingungen der Bevölkerung genau zu studieren. Wie schon Hippokrates betonte er, die gesamten Lebensbedingungen, die Luft, das Wasser, der Boden und die Lebensweise müssten in die Betrachtungen zu Gesundheit und Krankheit einbezogen werden. Die berühmte Schlusssequenz lautet: »Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes« (zit. nach Heinrich Schipperges: Rudolf Virchow. Reinbek 2003, S. 97).

In der Politik engagierte sich Virchow als liberaler Abgeordneter und vertrat entschieden antiklerikale Positionen. Selbst am Märzaufstand 1848 war er beteiligt, woraus er aber kein Heldentum machen wollte: »Meine Beteiligung an dem Aufstande war eine relativ unbedeutende«, schrieb Virchow. »Ich habe einige Barrikaden bauen helfen, dann aber, da ich nur ein Pistol bekommen hatte, nicht wesentlich mehr nützen können ...«

Virchow war ein Kritiker der Verhältnisse und der Herrschenden, grundsätzlicher Gegner der Kolonialpolitik und antimilitaristisch eingestellt. Er scheute auch das direkte Wortgefecht im Preußischen Landtag nicht. Am 2. Juni 1865 geriet er so heftig mit Bismarck aneinander, dass dieser ihn zum Duell forderte. Virchow aber erklärte das Duellieren als nicht zeitgemäße Form der Auseinandersetzung. Er begründete die bis heute bestehende, äußerst umfangreiche Pathologische Sammlung in Berlin (heute: Medizinhistorisches Museum Berlin der Charité). Virchow interessierte sich daneben auch für Ethnologie und Archäologie und war zeitweise mit Schliemanns Team in Hissarlik, Troja, bei Ausgrabungen vor Ort. Ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt war die Beratung von Politik und Verwaltung, z.B. beim Aufbau einer städtischen Abwasserentsorgung aus Hygienegründen. Virchow vertrat gegen den doktrinären Ausschließlichkeitsanspruch und die unikausale Ätiologie eine differenziertere bikausale Lehre der Krankheitsursachen. Aus seiner eher ganzheitlichen, auch Umwelt- und Sozialfaktoren als relevante Dimensionen einbeziehenden Auffassung der ärztlichen Bemühungen um Gesundheit resultierte eine deutliche Kritik an der rein bakteriologisch ausgerichteten Forschung eines Robert Koch oder eines Paul Ehrlich.

Freilich sollte man die Gegensätzlichkeit der beiden großen Mediziner des 19. Jahrhunderts nicht überbewerten. Auch Koch sah die Lebensverhältnisse, als er etwa in Hamburg anlässlich der Choleraepidemie 1892 das Trinkwasser als Infektionsquelle und die Verbesserung der Lebens- und Hygieneverhältnisse betonte. Schließlich waren beide Kinder ihrer Zeit. Und so findet sich auch der Name Virchow in der Liste der in Düsseldorf überprüften Straßennamen, weil er an sogenannten »Völkerschauen« beteiligt war, woraus ein Rassismus- und Kolonialismus-Vorwurf abgeleitet wurde. Der Abschlussbericht des Beirats beurteilt Virchow als »historisch minderbelastet«, weshalb keine Umbenennung empfohlen wurde. München hat eine Überprüfung der Straßennamen von 360 »Verdachtsfällen« in Auftrag gegeben – darunter Robert Koch.

Zwar erinnern heute einige Denkmäler an Rudolf Virchow und auch eine Stiftung und ein Krankenhaus tragen seinen Namen. In der gesundheitspolitisch interessierten Öffentlichkeit wie in der medizinischen Forschung und Lehre allerdings sind seine Ansätze heute zugunsten einer oft mikrobiologisch verengten, und damit eher an Robert Koch orientierten Sichtweise stark in den Hintergrund gerückt. Es wäre wohl an der Zeit, sich an diesen sozialmedizinisch und sozialpolitisch engagierten großen Arzt und Forscher gerade auch angesichts neuer großer Herausforderungen für Gesundheit und Gesellschaft zu erinnern. Statt einer einseitig virologisch informierten Medizin braucht unsere Gesellschaft eine Rückerinnerung an das gesamte Bild des Menschen und der Gesellschaft: »Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen« (Rudolf Virchow).

1) https://dokustreams.de/zdf-history-die-grosen-skandale-der-medizin/