Homeschooling und Waldorf – geht das?

Erziehungskunst: Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, äußerte sich im Redaktionsnetzwerk Deutschland: »Die Corona-Krise bietet Deutschland in Sachen digitaler Bildung eine große Chance: Wir können einen echten Mentalitätswandel schaffen. Wir sehen, wie nützlich digitale Lernangebote sein können. Alle sind jetzt bereit, es einfach mal auszuprobieren. Ich sehe eine neue Aufbruchsstimmung. (…) Aber auch nach der Krise muss die Digitalisierung der Schulen energischer vorangetrieben werden.«  – Teilen Sie diese Ansicht?

Robert Neumann: Ich gehe tatsächlich eher davon aus, dass am Ende der Krise alle froh sind, wenn die Kinder wieder in die Schule gehen können. Es hängt meiner Erfahrung nach nicht so sehr an der Digitalisierung der Schulen. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben es ja geschafft, über private Geräte relativ unkompliziert, Inhalte bereitzustellen. Natürlich könnte da die Infrastruktur noch besser sein, aber ich höre von vielen Kollegen, dass sie die Erfahrung machen, dass es meist sehr viel aufwändiger ist, so zu unterrichten. Damit beziehe ich mich ausdrücklich auch auf Lehrer, die vertraut sind im Umgang mit Technologie.

Franz Glaw: »Energischer vorantreiben«? – Ja. Das bedeutet aber zunächst einmal lediglich, dass die Lehrer die neu vorhandenen Möglichkeiten kennenlernen sollen. Danach kann man darüber entscheiden, was einen Zusatznutzen bringt und was eher schadet und verhindert. Dies ist vor allem auch eine Frage des Lebensalters der Schüler. Grundsätzlich erinnern wir immer an die Devise, dass eine indirekte immer einer direkten Medienpädagogik vorausgehen muss.

EZK: Auch PISA-Chef Andreas Schleicher prognostiziert: »Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen«, auch wenn er Schule im Homeoffice dauerhaft für keine gute Idee hält, denn »Lernen ist ein Prozess, der viel mit der Beziehung von Lehrern und Schülern zu tun hat. Und für diese Beziehung braucht es echten Kontakt.« – Liegt er mit dieser Annahme nicht voll auf der Waldorflinie?

RN: Wenn man mit Oberstufenlehrern spricht, die eine neunte Klasse übernommen haben, ist den meisten klar, dass es in der neunten Klasse eigentlich erst mal darum geht, überhaupt eine Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Die wollen erst mal wissen, wer das ist, der sie da unterrichtet. Wenn da dann eine Beziehung aufgebaut wurde, klappt der Unterricht ganz anders, als wenn man zum Beispiel nur mal für ein paar Tage vertretungsweise in einer Klasse unterrichtet, die einen gar nicht kennt. Von daher kann ich Andreas Schleicher nur zustimmen.

FG: »Voll auf Waldorflinie« würde ich bei einer solchen knappen Aussage nicht unbedingt unterstellen. Dagegen würde ich das »viel mit der Beziehung zu tun« erweitern wollen: Lernen, jedenfalls im Schulalter funktioniert ausschließlich über Beziehung. Das haben nicht zuletzt die immensen Abbruchquoten der hochgepriesenen MOOC (Massive Open Online Courses) gezeigt. Die Chance, die ich täglich erlebe, besteht darin, dass man wie unter einem Brennglas erkennen kann, wie wichtig Beziehung und vor allem auch die direkte Wahrnehmung der Schüler in der Lernsituation ist. Ich habe zahlreiche alternative Wege des Unterrichtens und der Vermittlung erprobt (– und das auch im Prinzip schon seit vielen Jahren. Selbst bei den Schülern in der Abiturvorbereitungsklasse und selbst bei Unterrichtsstoffen, die ich in der Mathematik altersbedingt mehrere hundert Male erklärt habe, ist der Unterricht erfrischend und nie langweilig, wenn die Schüler mittun, mitdenken, Fragen stellen usw. – wenn es also den »Rückkanal« gibt. Schiebt sich oder schiebe ich notgedrungen die Technik dazwischen, muss ich einen ungleich größeren seelischen Aufwand leisten, um an diese – ja glücklicherweise stabil vorhandene – Beziehung anzuschließen. Nach vier Stunden Unterricht in der Schule bin ich in der Regel munter und gekräftigt, nach vier Stunden Unterricht per Videokonferenz total erschöpft.

Bildhaft gesprochen: Wenn man vorübergehend seine Beine nicht gebrauchen kann, ist ein Rollstuhl ein wertvolles Hilfsmittel. Ich würde aber nicht auf die Idee kommen, den Rest meines Lebens darin verbringen zu wollen.

EZK: Die Eltern sind von heute auf morgen zu Hilfslehrern der Nation aufgestiegen – und die meisten werden nun plötzlich zwei Berufe haben. Sind die Eltern damit zeitlich und fachlich nicht überfordert?

RN: Ich finde das ein wirklich spannendes Phänomen, dass plötzlich die Lehrer gesellschaftlich eine ganz andere Wertung erfahren, nachdem es in Deutschland ja lange zum guten Ton gehörte, sich über die Lehrer zu amüsieren. Ex-Kanzler Schröder bezeichnete sie ja mal als »faule Säcke«. Die Eltern, die jetzt beides machen müssen, stehen im Moment vor einer großen Herausforderung und ich denke, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann.

FG: Natürlich – komplett. Jedenfalls dann, wenn sie versuchen, das zu leisten, was ansonsten in der Schule passieren würde. Eltern müssen – natürlich gemeinsam mit der Schule und den Lehrern – für diese Situation eigene, ganz neue Konzepte entwickeln. Erfahrungen liegen ja andernorts vor. Nebenbei: Ich habe mir einmal die Filmaufzeichnung der hier zitierten Situation angeschaut. Tatsächlich war die Äußerung gegenüber den Schülern mehr als eine provozierende Frage, denn als ein Statement gemeint. Im Sinne von »Ihr glaubt wohl, dass die Lehrer faule Säcke sind?«

EZK: Wer jetzt nicht computertechnisch up to date ist, wäre eigentlich nicht beschulbar: Videokonferenzen, Webinare und zahllose Arbeitsblätter, die nicht nur Drucker und Patronen strapazieren, sondern auch die Köpfe, sind jetzt auch eine selbstverständliche Kommunikationsform auch bei Waldorf. Meinen Sie, ohne interpersonalen Dialog bleibt wirklich etwas bei den Schülern hängen?

RN: Ich glaube, ein Drittel der Schüler, die auch so selbstständig arbeiten können, können jetzt tatsächlich von der jetzigen Situation profitieren, weil sie aktiv an die Dinge herangehen. Aber als Lehrer ist man ja auch wesentlich für die Schwächeren da, die das eben noch nicht so können. Von daher hätte ich eher die Befürchtung, dass die Schere zwischen den Leistungsstärkeren und den Leistungsschwächeren weiter auseinandergeht.

FG: Das kommt sehr darauf an. Es gibt Schüler, die auch bei zwischengeschalteter medialer Vermittlung den Dialog pflegen. In etlichen Fällen sogar intensiver, offener und direkter als in der Klasse. Schließlich hören die Klassenkameraden nicht mit. Das ist teilweise sehr bewegend, was man als Lehrer da erfährt. Und man erfährt auch Dankbarkeit für die individuelle Zuwendung. Da erlebe ich in vielen Fällen einen ungeheuren Fleiß, der sicher dazu führt, dass auch nicht nur im Kopf etwas hängen bleibt. Auf der anderen Seite gibt es Schüler, die verschwunden, einfach abgetaucht sind, von denen ich drei Wochen lang nichts gehört und gesehen habe. Das hat ganz unterschiedliche Hintergründe. Von persönlichen Leidenssituationen bis zu familiären, sehr problematischen Bedingungen, wenn für vier Schulkinder nur zwei Zimmer und zwei Computer zur Verfügung stehen. Die Unterschiede im Hinblick auf Chancen und Ergebnisse werden größer.

EZK: Wenn auch bei Oberstufenschülern die Medienaffinität und der Reiz einer neuen Unterrichtsform das Fehlen eines Lehrers zeitweilig überbrückt werden kann, gilt dies bei Schülern der Unter- und Mittelstufe nicht. Sie brauchen den vollpräsenten Lehrer. Üben und Abfragen stehen bei den Arbeitsblättern im Vordergrund – keine Feed-back-Kultur. Gelegentlich wird zu eigenen Projekten angeregt – doch ohne Unterstützung der Eltern sind diese kaum realisierbar. Macht für diese Unterricht zuhause überhaupt Sinn?

RN: Im Unterricht der Unter- und Mittelstufe spielt der kognitive Anteil des Unterrichts eine kleinere Rolle als in der Oberstufe, von daher fehlt dort sicher noch mehr. Gerade auch die Anteile mit gemeinsamer Rezitation oder Singen, im Hauptunterricht wie in den Sprachen scheinen mir nur sehr eingeschränkt über eine Videokonferenz machbar zu sein. Aber im Moment geht es ja darum, überhaupt etwas hinzubekommen.

FG: Soziale Interaktion ist im Lernprozess bei allen Schülern – nicht nur in der Unter- und Mittelstufe – ganz wichtig. Das können die Eltern alleine nicht leisten. – Auch hier braucht es gemeinsam entwickelte, neue, ergänzende Ideen. Die Interaktion zwischen Schülern und Lehrern muss auch ohne Corona-Krise und kann ergänzt und erweitert werden durch weitere Interaktionen. Ich habe beispielsweise meinen Neuntklässlern ein Lernvideo der Schüler von Robert Neumann als Aufgabengrundlage gegeben. Sie sollten das Gezeigte nachvollziehen, nachmachen, beschreiben und kommentieren. Da bietet die Technik – Kamera, Mikrofon, Internet-Plattform vimeo, E-Mail-Austausch – eine Möglichkeit, »pädagogischen Mehrwert« zu generieren. Übrigens bei gleichzeitiger Arbeitsentlastung der Lehrer – win-win.

EZK: Kann ein Unterricht ohne Lehrer und Klassengemeinschaft überhaupt nachhaltig, das heißt wirklich bildend sein?

RN: Die Waldorfschule gilt als Schule für Kopf, Herz und Hand. Man merkt jetzt, dass man den Kopf-Anteil, das heißt den kognitiven Unterricht mehr oder weniger auch per Videokonferenz machen kann. Aber alles andere, gerade gemeinsames Rezitieren oder Ausflüge und Theaterstücke fehlen eben. Man kann vielleicht auch an sich selbst im Moment beobachten, dass es eben ein Unterschied ist, ob man erst in ein Klassenzimmer geht, dort ankommt, den Raum und die Anderen wahrnimmt und dann der Lehrer oder Dozent den Raum betritt – oder ob man praktisch blitzartig in den Raum katapultiert wird, während man zuhause am Schreib- oder Küchentisch sitzt.

FG: Wie kann man auf die Idee kommen, eine solche Frage zu stellen? Ein solcher Unterricht hätte verheerende Folgen. Ich mache auch ganz andere Erfahrungen. Ich erlebe jeden Unterricht als stark dialogisch. Je nachdem, wie die Schüler reagieren, und seien es nur verständnislose Blicke, erkläre ich anders, suche andere Beispiele oder finde neue Wege. Situationsbedingt mache ich im Augenblick sehr viel und intensiv Einzelunterricht. Auch in den Ferien biete ich weiterhin für die Dreizehntklässler eine tägliche Sprechstunde von 8.30 Uhr bis um 9.00 Uhr an, die auch stets genutzt wird. Dies dient auch als Stütze – auf beiden Seiten – für die Struktur des Tagesablaufs. Oft ergeben sich daraus Einzelverabredungen für den Nachmittag, die dann etwas länger dauern. Dabei gelingt es mir oft, im Detail nachzuvollziehen, wo die Schwierigkeit beim Verstehen sitzt, und herauszufinden mit welchem Werkzeug sie zu beheben ist. Ein solches zeitintensives Vorgehen ist im Unterricht mit der ganzen Klasse in der Regel gar nicht möglich.

Ganz anders ergeht es mir, wenn ich meinem Tablet etwas erkläre. Das strahlt mich beständig an und hat niemals eine verständnislose Nachfrage. Es ist für mich aber auch maßlos langweilig.

Bestätigung für meine Erfahrungen finde ich übrigens bei Martin Kramer, der auch auch Mathematik unterrichtet, in seinem Buch »Unterricht ist Kommunikation – Der Schüler entscheidet, was gelehrt wurde«.

EZK: Fördert Homeschooling nicht sogar die soziale Segregation, da zumindest ein Elternteil zuhause und kompetent genug sein muss, um mit den Kindern zu lernen – was Niedrigverdienern, denken wir an eine Supermarktkassiererin oder einen Versandangestellten, wohl nicht so ohne weiteres möglich sein wird.

RN: Ja, das ist in Deutschland schon seit vielen Jahren ein Thema, dass der Bildungserfolg stärker als in anderen europäischen Ländern vom Elternhaus abhängt. Jeremias Thiel, Autor des Buches Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance – Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und selbst als Kind in Armut aufwuchs, beschreibt zum Beispiel, wie wichtig seine Tagesgruppe für ihn war, die er von der zweiten bis zur fünften Klasse täglich besucht hat.

EZK: Digitale Medien kommen – menschenkundlich fundiert begründet – nach dem medienpädagogischen Konzept der Waldorfschulen erst mit der 7./8. Klasse ins Spiel. – Durch die Corona-Krise und die Schulschließungen kann diese Ideallinie nicht gehalten werden. Was raten Sie Lehrern und Eltern?

RN: Wir müssen im Moment alle mit Kompromissen leben, das lässt sich ja gar nicht vermeiden. Soweit ich das mitbekomme, versuchen die Klassenlehrer gerade in den unteren Klassen weitgehend, Aufgaben zu verteilen und keinen Videounterricht zu machen, so dass ihre Schüler nicht so davon betroffen sind. Abgesehen davon erleben die Kinder ja auch die außergewöhnliche Lage und sind dann wahrscheinlich froh, ihre Klassenkameraden wiedersehen zu können.

Ich denke, es ist vor allem wichtig, sich nicht von der Angst anstecken zu lassen, die ja zum Teil umgeht und zum Beispiel zu solch absurden Hamsterkäufen von Toilettenpapier führt. Von daher ist es sicher hilfreich, zu versuchen, nicht alle Essensgespräche um Corona kreisen zu lassen und positiv nach vorne zu blicken.

FG: Halten Sie es wie mit dem Rollstuhl für ein Kind, welches nach einem Beinbruch vorübergehend nicht laufen kann. Ich hätte Bedenken, wenn mein Kind im Anschluss an die Heilung weiter im Rollstuhl sitzen bleiben würde. Die natürliche Reaktion sollte Freude über die zurückgewonnenen Bewegungsmöglichkeiten sein.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.