Kirgistan und Nadjeschda: Behinderte in der Corona-Krise

Karla-Maria Schälike

Innerhalb von 24 Stunden wurde der Ausnahmezustand verkündet. An Stelle des Bürgermeisters übernahm ein Stadtkommandant die Führung der Stadt. Seine erste Amtshandlung über Nacht war die Einstellung des gesamten Stadtverkehrs (Busse, Taxis, Privatwagen und Fahrräder). Bischkek ist eine Millionenstadt. Viele Menschen, wie zum Beispiel Ärzte und Verkäufer, haben trotz des Verbotes versucht ihren Arbeitsplatz per Fahrrad zu erreichen. Auf Befehl des Stadtkommandanten wurden die Fahrräder sofort konfisziert. Erst nach vielen Protesten nahm der Kommandant den sogenannten Fahrraderlass zurück. Da Fahrerlaubnisse für Firmen und Einrichtungen nur unter Überwindung unglaublicher bürokratischer und korrupter Hürden beantragt und erstellt werden konnten, war die Wohngruppe für junge Erwachsene des Janusz-Korczak-Zentrums abgeschnitten.

In dieser verzweifelten Situation konnten wir keine Lebensmittel in die Wohngruppe bringen. Die Waschmaschine war kaputt gegangen. Da erschien wie eine rettende Märchenprinzessin Assol Moldokmatova, deren Fernsehteam eine Sendung über Nadjeschda machte, zu Spenden aufrief und Lebensmittel in die Wohngruppe brachte. Das wundervolle Märchen ging weiter. Es erschien ein Prinz Erkin Nurbaev von der Wohltätigkeitsorganisation »Elim Barsynby«, der mit seinem Fernsehteam Lebensmittel an die hungernden Familien der Nadjeschdakinder verteilte. Wir waren unendlich dankbar, denn so war unsere erste große Sorge, die Ernährung unserer Schützlinge, durch diese beiden hilfsbereiten Menschen gelöst. Die Sorge, wie die behinderten jungen Menschen und die Mitarbeiter das wochenlange Eingesperrt sein in den Baracken überstehen werden, blieb. Die Betreuten durften wochenlang nicht auf die Straße. Es war ihnen sogar verboten die schmale Straße zu überqueren, um im gegenüberliegenden Janusz-Korczak-Zentrum in den Werkstätten zu arbeiten oder im Saal Tischtennis zu spielen. Bei einem ersten Versuch die Straße zu überqueren wäre nicht nur die Polizei erschienen, sondern böse Nachbarn hätten uns angezeigt. Die Strafen sind empfindlich hoch. Zu all solchen Begrenzungen kam die große Sorge um die Gesundheit der Betreuten und Mitarbeiter. Und die quälende Frage: Wie geht es weiter, was kommt in der nächsten Zeit noch auf uns zu.


Der vorstehende Bericht zur Corona-Krise in Kirgistan und Nadjeschda liegt schon einige Wochen zurück. Inzwischen hat eine extrem dynamische Entwicklung der Epidemie zu chaotischen Zuständen in Kirgistan geführt.

Die Medikamentenvorräte sind in vielen Apotheken total aufgebraucht oder werden zu Wucherpreisen verkauft. Ganze Stadtteile von Bischkek werden abgeriegelt. 42 % aller Erkrankten in Kirgistan leben in der Hauptstadt. Die Kaufhäuser, Märkte usw. sind wieder geschlossen und alle Veranstaltungen, selbst die Verhandlungen des obersten Gerichts von Kirgistan, finden nicht mehr statt.

Im Gegensatz zur Zeit des Lockdown, als im April 1,6 %, im Mai 1,3 % Erkrankte registriert wurden, waren es im Juni 4,6 %. Am 8. Juli wurde angegeben, dass 19,64 % an atypischer Lungenentzündung gestorben seien. Das sind offizielle Zahlen, die weiter nicht erläutert wurden. Die Tatsachen sind, dass die Krankenhäuser keine Kranken mehr aufnehmen können, dass Kasernen und andere Gebäude in Krankenhäuser umfunktioniert wurden, dass es an allem fehlt (Schutzausrüstung, Medikamente, Sauerstoff, Beatmungsgeräte usw.) Und dass mehr als 30 % aller Ärzte zurzeit erkrankt sind und viele Ärzte an Corona gestorben sind.

Die Behörden sind hilflos. Ohne die tatkräftige Hilfe der kirgisischen Unternehmerverbände, die in allen Stadtteilen Zelte für die ambulante medizinische Betreuung der Corona Kranken aufgestellt haben, würden noch viel mehr Menschen sterben.

In dieser für alle Menschen in Kirgistan schweren Zeit hat das Nadjeschda Team sich ganz besonders in seiner Hilfsbereitschaft und fast grenzenlosen Verantwortung für die Nadjeschdakinder bewährt. Obwohl viele Nadjeschdamitarbeiter und ihre Familien von der Coronakrise betroffen sind, gelang es ihnen immer wieder in der Organisation der total gestörten täglichen Abläufe neue Wege zu finden.

Inga Schälike, die als einziges noch nicht erkranktes Vorstandsmitglied die gesamte Leitung des Kinderzentrums allein übernehmen musste, zeigte sich (trotz ihrer vier Kinder) den vielen Herausforderungen und ihrer Verantwortung für die Kinder und Mitarbeiter, bewundernswert gewachsen.

Für die Nadjeschdakinder brachte die Coronakrise viele emotionale Verunsicherungen und Ängste mit sich. Der gesamte Alltag (personelle Veränderungen durch die Erkrankung vieler Mitarbeiter, Strukturveränderungen, Hygienevorschriften) hatte sich ganz plötzlich total verändert. Dabei benötigen viele unserer Kinder, z.B. Kinder mit Symptomen von Autismus, oft viele Wochen, um sich auf neue personelle oder äußere Veränderungen einzustellen.

Deshalb versuchten die Mitarbeiter, trotz der besonderen Umstände täglich immer neu, die pädagogischen und therapeutischen Notwendigkeiten bewusst in ihre Arbeit mit jedem einzelnen Kind einzubeziehen. Das war nicht einfach, unter den immer wechselnden Bedingungen jedem Kind gerecht zu werden. Denn oft mussten wegen der Corona Erkrankungen die verbliebenen Mitarbeiter, welche die Kinder gut kannten, durch andere ersetzt werden. Ohne die jahrelangen Vorbereitungen in unserem heilpädagogischen Seminar und die Kreativität des gesamten Teams hätten wir diese großen Herausforderungen nicht bewältigen können. Dabei entdeckte das Team, dass bei einigen Mitarbeitern plötzlich neue Talente erwacht sind, die niemand vermutet hatte, was die gegenseitige Wertschätzung in dieser schweren Zeit unterstützte.

Durch die Coronakrise ist sichtbar geworden mit welchem unendlichen Engagement sich die Mitarbeiter bemühen den Kindern trotz allem Geborgenheit und Sicherheit zu schenken. Nadjeschda heißt Hoffnung und die Hoffnung, dass das Nadjeschda Team die Coronakrise meistern kann wurde nicht enttäuscht.

Mehr zu Nadjeschda