Literatur und Pandemie. Anregungen für den Literaturunterricht in Krisenzeiten

Daniel Mylow

»Etwa zu Frühlingsanfang begann die Krankheit schrecklich und erstaunlich ihre verheerenden Wirkungen zu zeigen.«

Giovanni Bocaccio, Dekamerone

Einerseits bezog sich Goethe damit auf die Flüchtlingsströme aus dem revolutionären Frankreich. Andererseits auf das »Veloziferische«, die globale Verknüpfung der Beschleunigung mit Luzifer, der Ungeduld, die einen Wesenszug des Teufels darstellt. Diese Epidemie springt für ihn pandemisch »von Weltteil zu Weltteil«. In einem Brief an seinen Freund Zelter schreibt er 1825 von der Verbindung des technischen »Ultras« der Kommunikationsbeschleunigung mit dem »Ultra« der Beschleunigung des »Reichtums« und der »Schnelligkeit«: »Alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.«

Diese Passage klingt erstaunlich modern. Die Selbstentfremdung des Menschen hat in der Klimakrise, der rastlosen Globalisierung und dem unaufhaltsamen Vordringen der KI in alle Lebensbereiche ein existenziell bedrohliches Ausmaß erreicht. Goethe weiß ein Mittel dagegen: das Gespräch. In dem weitgehend verkannten ersten deutschen Novellenzyklus »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, den Goethe 1794/95 verfasste, im übrigen eine Hommage an das »Dekameron«, findet sich Goethes Antwort auf die Schrecken einer Epidemie. Nur durch ein bedingungsloses solidarisches Handeln könne es gelingen, das Virus und die Schrecken der verordneten Einsamkeit zu überwinden. Nur durch das Gespräch, dem Goethe im Augenblick bedrohlichster Gefahr den entscheidenden Rang zuweist, kann die Menschlichkeit bewahrt werden.

Genau das geschieht in Goethes Novellenzyklus und im »Dekameron« von Bocaccio.

Das neuartige Corona-Virus hat unsere Welt schlagartig verändert. Nun sind es Wörter wie »Infektionskurven«, »Verdopplungszeiten«, »Reproduktionsraten« und »Distanzregeln«, die uns begleiten – möglicherweise noch weit bis in das Jahr 2021. Nicht wenige Schüler sind dadurch verunsichert. Die Diskussion über technokratische Wortungetüme ist dabei wenig zielführend.

Literatur und das Gespräch über Literatur im Unterricht ist Erkenntnisgewinn – und Warnung. Es schafft Vergleichsmöglichkeiten, es ermöglicht, andere Perspektiven einzunehmen, unseren Ängsten, Hoffnungen, Träumen und Alpträumen zu begegnen.

Die folgenden Anregungen für einen Literaturunterricht in Zeiten von Pandemien tragen auch der Tatsache Rechnung, dass jede Zeit die Krankheiten hat, die zu ihr passen. Krankheiten befallen nie nur den Körper, sondern stets auch die Sprache und das Denken. Da kann Literatur auch heilend wirken.

Verdrängte Wirklichkeiten

In Bocaccios 1353 vollendetem Text »Decamerone« geht es um die schwarze Pest des Jahres 1348. In Florenz erlebte der Autor sie selbst mit. Es klingt bedrohlich, was die Erzählerstimme uns Leser am Anfang wissen lässt: »Zwischen März und Juli« seien »mehr als hunderttausend Menschen in den Mauern der Stadt wie Tiere« umgekommen, alle Institutionen brächen unter der Zahl der Infizierten zusammen und selbst die Angehörigen ließen die Sterbenden aus Angst vor Ansteckung alleine. Eine Gruppe von jungen Menschen verlässt die Stadt.

In den kommenden zehn Nächten erzählen sie sich hundert Geschichten über alle möglichen Erscheinungsformen der Liebe. Man kann sich sicher sein: Ohne die Epidemie wäre dieses Erzähltalent nie zum Vorschein gekommen. Die Intensität im Erleben und Verhalten ist nicht denkbar ohne den erzwungenen Rückzug und die Bedrohung. So wird aus der Depression bisweilen ungezwungene Heiterkeit und Freude. Interessant: Als die kleine Gesellschaft am Morgen des zehnten Tages in die Stadt zurückkehrt, ist die Pest verschwunden. Wurde sie durch die Kraft des Erzählens gebannt?

Die Novellen sind teils recht kurz und lassen sich im Deutschunterricht der 9. oder 10. Klasse exemplarisch und auszugsweise auch im Fachunterricht gut behandeln.

Edgar Allan Poes Erzählung »Die Maske des roten Todes« rekurriert auf die Cholera-Epidemie in den Jahren 1831/32. Eine skrupellose Herrschaftselite versucht in einer Festung dem Seuchentod zu entkommen. Mitten in ihrer rauschenden Party taucht plötzlich die verdrängte Wirklichkeit in Form eines rotmaskierten Todesengels auf: Niemand entkommt.

Auch in unseren Tagen macht das Corona-Virus gesellschaftliche Missstände und die gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern nur zu deutlich. Während sich ein unterbezahltes Pflegepersonal infiziert und viele Menschen vielerorts nicht einmal die einfachsten Hygieneregeln einhalten können, verschanzen sich die Reichen in ihren Feriendomizilen. Macht das Virus wirklich alle gleich, wie oft behauptet wurde? Die Erzählung, leicht verständlich, bietet interessante Gesichtspunkte zur Diskussion und lässt sich in einigen wenigen Fachstunden gut besprechen.

Daniel Defoes Text »Die Pest zu London« aus dem Jahre 1722 beschäftigt sich eher mit den Folgen des Pestausbruchs 1665 in London. Defoe war damals fünf Jahre alt und wurde aufs Land gebracht.

Der Wahnsinn treibt die Menschen über die Straßen Londons. Hysterie, Arbeitslosigkeit, Betrug und Plünderei: Defoe beschreibt eine Gesellschaft im Ausnahmezustand: »Je größer die Trübsal im Laufe der Schreckenszeit wurde, umso mehr nahm auch die Verstörtheit der Menschen zu.«

Und doch beschreibt Defoe in seinem Werk, das eine Mischung aus Roman, Fakten und Berichten darstellt, wie sehr Vernunft und Ratio überlebensnotwendig sind. Diesen Anteil scheinen in den vergangenen Monaten Politik und Wissenschaft in Gestalt der täglich in den Medien auftretenden Minister und Virologen zu verkörpern. Ebenso der demokratisch beschlossene Ausnahmezustand, in den sich in unserem Land alle gefügt haben. Entsprechend gewählte Textauszüge ließen sich auf diese Aspekte hin gut auch in den Englisch-Unterricht einbauen.

Was ist Menschlichkeit?

Mehr Raum würde die Beschäftigung mit den nachfolgend kurz vorgestellten Romanen in Anspruch nehmen. Etwa in der Roman-Epoche des 11. Schuljahres. Einzelne Gruppen könnten sich im Vorfeld der Epoche jeweils mit einem Werk unter einem bestimmten Aspekt beschäftigen. Das ergäbe dann in der Epoche ein facettenreiches Bild des Umgangs der Menschen mit Krisensituationen. Aber auch formale Kriterien, wie Romanaufbau, Erzählerstimme, Umgang mit Zeit, sprachlichen Besonderheiten und der Einbettung in die jeweilige Gegenwart, können dabei besprochen werden. Denkbar wäre auch die Konzentration auf nur eines der genannten Werke, das dann mit einem der Romane verglichen werden könnte.

In Albert Camus 1947 erschienenem Roman »La Peste« erscheint das Motiv der Epidemie als eine Situation der Freisetzung. Vor dem Hintergrund der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und der Frage nach der menschlichen Natur entfaltet Camus seine Geschichte. In der algerischen Stadt Oran taucht eines Tages, nach bedrohlichen Vorzeichen, die Pest auf. Anfangs von den Bewohnern geleugnet, dann als »Fake« abgetan, wütet die Epidemie in der bald unter Quarantäne gestellten Stadt gnadenlos. Anhand der Protagonisten des Romans stellt Camus grundlegende religiöse Werte, politische Prinzipien und ethische Pflichten dar, die von zeitloser Aktualität sind und die uns gerade in den gegenwärtigen Diskussionen begleiten. Am Ende stellt der Erzähler fest, dass es »an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten« gebe. Dem Roman geht es um die Frage des Humanismus. Es lohnt sich, angesichts der Erfahrungen des 20.Jahrhunderts, mit Schülern darüber ins Gespräch zu kommen. Zudem könnte man mit der Klasse erarbeiten, wie wichtig es ist, sich an der pragmatischen, nüchternen und doch leidenschaftlichen Haltung zu schulen, das Virus als ein Phänomen zu betrachten, das die Gesellschaft, wenn auch unter großen Opfern, halbwegs in den Griff bekommt.

Doch es gibt in diesem Buch noch einen anderen Aspekt. Auf dem Höhepunkt der Epidemie geht der Held Dr. Rieux nachts im Meer baden. In diesem Augenblick hat die Pest keine Realität mehr für ihn. In aller Ruhe betrachtet Rieux die Sterne.

In diesen Wochen und Monaten war oft von Entschleunigung die Rede. Wenn man auch diesen Aspekt von Corona in den Fokus rücken möchte, empfiehlt sich ein literarischer Abstecher zu Henry David Thoreau und seinem Buch »Walden«. Dessen Held streift alles Überflüssige des Lebens ab und baut sich eine Hütte im Wald: »Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.« Das Experiment »Walden« ist der Versuch einer Heilung von den Zivilisationskrankheiten. Jeder Tag ist ein neuer Anfang. Thoreau zeigt auf, wie sich Demut vor den Menschen und der Natur erlernen lässt.

Venedig

35 Jahre vor »La Peste« erschien Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig«. Das Thema selbst, die unerwiderte homoerotische Liebe eines alternden Schriftstellers zu einem Jungen während eines Urlaubsaufenthalts in Venedig, erscheint für Schüler eher wenig geeignet. Und doch ist diese Novelle, vor dem Hintergrund einer von allen Feriengästen lange verharmlosten Cholera-Epidemie im feuchtheißen Wetter erzählt, grandios komponiert und geeignet, einen weiteren Aspekt der Pandemie zu thematisieren: Was geschieht, wenn ich alle lebenserhaltende Vorsicht in der Epidemie aufgebe und meine Gefühle nicht beherrsche? Am Ende stirbt Gustav Aschenbach, der Held der Novelle, cholerakrank und in einer trügerischen Selbsttäuschung gefangen. Die Komposition dieser Novelle ließe sich auch mit einer Stundeneinheit zur Technik der Novelle verknüpfen.

Südamerika

1985 erschien Gabriel Garcia Marquez’ Welterfolg »Die Liebe in den Zeiten der Cholera«.

Nach fünf Jahrzehnten währender Irrwege begreifen zwei gealterte Liebende in Südamerika, »dass die Liebe zu jeder Zeit und an jedem Ort Liebe war, jedoch mit der Nähe zum Tod an Liebe gewann«. An Bord eines Dampfers auf dem Magdalenstrom hissen sie die gelbe Choleraflagge, um von nun an geschützt vor den Zumutungen des wirklichen Lebens in selbstgewählter Quarantäne zu verbleiben. »Cólera« ist im kolumbianischen Spanisch zugleich eine Metapher für die leidenschaftliche Liebe. Femina Daza, die eigentliche Heldin des Romans, war bis zu dessen Tod mit eben jenem Arzt verheiratet, der sich um die Auslöschung der Cholera verdient gemacht hat. Diese Figur erinnert übrigens in ironischer Weise an den Popstar-Status heutiger TV-Virologen. Florentino Ariza, der männliche Held des Romans, hat 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage auf Femina gewartet. Offenbar ist es nicht der Tod, sondern das Leben, das keine Grenzen kennt.

Der Roman betrachtet das Thema der Epidemie eher ironisch-verspielt, zeigt darin aber auch deren Überwindung in Form der großen Kraft der Liebe. Ganz im Sinne des Goetheschen Begriffs von Weltliteratur wäre es erstrebenswert, im Literaturunterricht auch einmal über den Tellerrand der europäischen Literatur hinauszublicken und sich mit Spielarten des »magischen Realismus« der südamerikanischen Literatur vertraut zu machen.

USA

Philip Roths Roman »Nemesis« (2010) spielt im Jahre 1944 in Newark/New Yersey in den USA. Wieder erscheint die Pandemie, hier in Gestaltung der Kinderlähmung, wie ein düsteres Verhängnis inmitten der Bevölkerung. Es herrscht eine mangelhafte Informationspolitik, Angst, und bald ein Gefühl der Machtlosigkeit. Und dies vor dem Hintergrund, dass ja erst 1955 ein Impfstoff vorliegen würde. Was macht diese Erfahrung mit den Menschen?

Stewart O’Nans Roman »Das Glück der Anderen« (2001) hat den Untergang einer Gemeinde in Wisconsin/USA zum Thema. Jacob Hansen, Prediger und Leichenbestatter in einem, gottesgläubig und Familienvater, ist machtlos im Angesicht der Seuche, in diesem Fall der Diphterie.

Das Infektionsgeschehen erscheint hier als Parabel auf gesellschaftliche Missstände, menschliche Hybris und Ohnmacht. Unter dem Eindruck der Klimakrise und der längst notwendigen Debatten über den Zusammenhang zwischen der Zerstörung eines biologischen Gleichgewichts und dem Auftreten von Pandemien bietet auch dieser Roman spannende Ansätze zur Diskussion. Vor allem in der ethisch zugespitzten Frage der Entscheidung zwischen der Verantwortung für die Gemeinschaft oder das private Lebensglück.

In José Saramagos Roman »Die Stadt der Blinden« aus dem Jahr 2005 erblinden die Bewohner einer Stadt urplötzlich. Die Angst vor der Ansteckung führt dazu, dass die Erblindeten in ein leerstehendes Psychiatriegebäude gebracht werden, versorgt von einem Arztehepaar. Die Lage eskaliert, doch gerade im größten Chaos erlangen die ersten Bewohner der Stadt der Blinden ihr Augenlicht wieder zurück. Tragende Motive des Romans, wie das der Solidarität, aber auch der Ausgrenzung und Aufopferung Einzelner, wurden in den vergangenen Monaten inmitten der Corona-Krise ebenso erlebbar und kontrovers diskutiert.

Stephen King entwickelt in seinem 1978 erschienenen Roman »The Stand« ein erschreckend realitätsnahes Szenario: Ein mutiertes Virus bricht aus einem Militärforschungslabor aus und tötet fast die gesamte Bevölkerung. Doch einige sind immun gegen das Virus. In einer entvölkerten Welt mit unverkennbar kapitalistischer Infrastruktur entwickelt sich der altbekannte Kampf Gut gegen Böse. Literarisch mag das weniger ambitioniert sein. Dafür kann der Roman auch Leser begeistern, die vielleicht eher schwer Zugang zur Lektüre finden oder ein actiongeladenes Szenario bevorzugen.

Gerade erschienen ist Katie M. Flynns Roman »The Companions« (März 2020, USA). Der Roman beschreibt die Auswirkungen einer Pandemie und den Trost, den Menschen bei Apparaten suchen, weil sie einander nicht mehr berühren dürfen. Es geht um Roboter mit Bewusstsein, die eine Art Kopie menschlichen Erlebens simulieren. Es ist evident, dass Digitalisierung und KI durch die Corona-Krise einen enormen Reputationsgewinn in der Gesellschaft erleben. Damit eröffnet sich ein weiteres Feld, über das mit jungen Erwachsenen ins Gespräch zu kommen dringend notwendig ist.

Unsere Kinder wachsen auf in einer Zeit globalen Handels, weltweiter Reisen und von Massenveranstaltungen. All das begünstigt die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus.

Seuchen wie Pest, Cholera, Aids, Lepra und Typhus waren und sind ein ständiger Begleiter der Menschheit. Seuchen und ihre Verbreitung sind aber auch in ein kulturelles Umfeld eingebunden und können nur in dieser Weise verstanden werden.

Goethe erwähnte das Gespräch als »rettend«. Das Gespräch mit anderen und der Natur. Ein Gespräch über Literatur bietet in diesem Kontext die Möglichkeit einer Neubesinnung.

Weitere Literatur:

A. Manzoni: Die Verlobten (Roman)

H. v. Kleist: Das Erdbeben von Chili (Erzählung)

Th. Glavinic: Der Corona-Roman (in Fortsetzung in der Zeitschrift »Die Welt«)

U. Laub: Leben (Thriller)

A. Szcypiorski: Eine Messe für die Stadt Arras. Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive