Sergej Prokofieff: Abschied von einem streitbaren Anthroposophen

Wolfgang G. Vögele, Cornelie Unger-Leistner

Viele der Trauergäste konnten im großen Saal der Schreinerei am Goetheanum keinen Platz mehr finden, in Warteschlangen vor den geöffneten Saaltüren stehend, erlebten sie die Feierlichkeit. Vor einer Saaltür war ein großes Foto des Verstorbenen aufgestellt. Er selbst hatte gebeten, von Blumen- und Kranzspenden abzusehen und stattdessen für die Anthroposophische Gesellschaft in seiner Heimat Russland zu spenden.

In Anwesenheit eines internationalen und auch von den Generationen her sehr gemischten Publikums zelebrierte Pfarrer Rolf Herzog aus Basel das Bestattungsritual der Christengemeinschaft. Auch manche Angehörige von Prokofieffs weitverzweigter Familie waren nach Dornach gekommen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen ebenso wie die Vorstandsmitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Prokofieff hatte dem Vorstand bis 2013 angehört, zuletzt als emeritiertes Mitglied.

Innerhalb des Aussegnungsrituals der Christengemeinschaft gab Pfarrer Herzog einen kurzen Lebensrückblick. Der mit Prokofieff befreundete Arzt und Autor Peter Selg, der bis zuletzt mit ihm in Verbindung gestanden hatte, würdigte die Verdienste des Verstorbenen als Redner und Schriftsteller im Dienste der Anthroposophischen Gesellschaft. Ausführlich schilderte Selg wesentliche Lebensstationen und Wendepunkte seines verstorbenen Freundes.

Lebenstationen

Bis zuletzt habe dieser die gegenwärtige Situation in der Ukraine mit großer Sorge verfolgt und aus der Ferne miterlebt, berichtete Selg. Prokofieff wurde 1954 in Moskau geboren. Sein Großvater war der berühmte Komponist Sergej Prokofieff (gest. 1953). In einer kunstgesättigten Atmosphäre in Moskau als Sohn eines Bildhauers und einer Theaterdramaturgin aufgewachsen, hatte Prokofieff schon als Jugendlicher ein einschneidendes Erlebnis während einer Opern-Aufführung von Wagners »Lohengrin«, das ihn zu einem lebenslang Suchenden werden ließ. Der »heilige Gral« sei ihm zur Mission geworden.

In kürzester Zeit entstanden Hunderte von Gedichten, von denen seine Angehörigen nichts wussten. Wie in einem Schaffensrausch stand der junge Prokofieff nachts auf, um das innerlich Erlebte sogleich zu Papier zu bringen. Später distanzierte er sich davon, er wollte mehr wissenschaftlich arbeiten. Prokofieff studierte noch zu Zeiten der Sowjetunion Malerei und Kunstgeschichte an der Kunsthochschule in Moskau.

Der Anthroposophie war Prokofieff im Hause des Dichters und Malers Alexander Woloschin auf der Krim begegnet. In diesem Haus, das ein Kulturzentrum war, hatten bekannte Persönlichkeiten von Gorki bis Solschenyzin gewohnt und gearbeitet. Dort stand auch nach dem Tod von Woloschin noch ein Foto von Steiner im Arbeitszimmer des Dichters, das niemand wegzunehmen wagte. Es sei vielleicht der einzige Ort in Russland gewesen, wo ein Foto Steiners zehntausenden von Menschen zugänglich gewesen sei, auch in den »finsteren Sowjetzeiten«, schrieb Prokofieff dazu. Steiners Bücher waren in der Sowjetunion verboten, trotzdem begann Prokofieff ein intensives Studium dieser Schriften.

Er las zuerst »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« Was Steiner darin schilderte, sei ihm, Prokofieff, größtenteils schon vertraut gewesen, nur habe er es hier erstmals in Gedankenklarheit vor sich gehabt. Mithilfe von Steiners Schriften lernte er Deutsch. 1979 kam er zum ersten Mal nach Mitteleuropa. Mit drei aufsehenerregenden Vorträgen machte der damals 25jährige auf sich aufmerksam. Sein erstes Buch »Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien« erschien noch zu Zeiten der Sowjetunion 1982 in Deutschland. Weitere Bücher folgten in den 80er Jahren, christologische Themen auf der Basis des Werks von Rudolf Steiner wurden zum Schwerpunkt seiner Arbeit. 1991 wurde er zum Mitbegründer der Anthroposophischen Gesellschaft in Russland, 2001 berief ihn die Anthroposophische Gesellschaft in den Vorstand in Dornach.

Im Dienst der Anthroposophie

Kein anthroposophischer Autor habe sich so intensiv mit dem Rätsel des Bösen auseinandergesetzt wie Prokofieff, betonte Selg in seiner Ansprache. Dieses Thema werde gegenwärtig immer brennender. In einem seiner letzten Gespräche mit Selg habe Prokofieff den Wunsch geäußert, noch ein Buch über Goethes Faust und eines über die Mysteriendramen schreiben zu können. Hier habe sich der Künstler in ihm wieder zu Wort gemeldet. An dem von Steiner erhofften Aufschwung der anthroposophischen Bewegung am Ende des 20. Jahrhunderts habe er aktiv mitwirken wollen: »Aber wo bleiben die Mitarbeiter?« habe er manchmal geklagt, um dann mit neuer Energie seine Aufgabe weiterzuführen.

Viel Unvollendetes und nur Projektiertes habe der Freund hinterlassen, berichtete Selg. Er äußerte die Hoffnung, dass Prokofieff die Anthroposophen weiterhin wie ein Schutzgeist inspirieren werde. Er verglich das Sterben Prokofieffs mit demjenigen Christian Morgensterns, das Steiner einmal einen »Sieg des Lebens über den Tod« nannte. Künstlerisch gerahmt wurde die Trauerfeier durch ernste, auf dem Klavier vorgetragene Musikstücke von Johann Sebastian Bach und durch die Rezitation des »Grundsteinspruches« von Rudolf Steiner.

Noch lange blieben Trauergäste nach den Feierlichkeiten im Gespräch versammelt vor der Schreinerei oder auch rund um das Gotheanum, das sich wegen der Sanierungsarbeiten zur Zeit in ein Gerüst eingehüllt zeigt. Gäste der Feier erinnerten in den Gesprächen auch an Prokofieffs persönliche Bescheidenheit und seine Herzlichkeit. Für persönliche Anliegen und Projekte einzelner Mitglieder, die ihn ansprachen, sei er stets offen gewesen: »Man fühlte sich von ihm ernstgenommen, verstanden und zugleich ermutigt. So sollten alle Vorstandsmitglieder sein«. Gesprochen wurde aber auch von seiner Einsamkeit in Dornach, von einer gewissen Isolation innerhalb der Hochschulleitung, die unübersehbar gewesen sei.

Kämpfer für das von ihm als wahr erkannte

In den Gesprächen kamen schließlich auch die Konflikte zur Sprache, in die Prokofieff involviert gewesen ist. Hervorgehoben wurde dabei, dass er sich nie gescheut habe, das von ihm als wahr Erkannte mutig zu vertreten wie z.B. im Fall der Kritik an Valentin Tomberg oder an Judith von Halle, denen er nur ungern das Prädikat »anthroposophisch« zugestehen wollte. Mit Steiner-Kritikern wie Prof. Helmut Zander ging Prokofieff hart ins Gericht, er vertrat die Auffassung, sie arbeiteten gezielt an der Vernichtung der anthroposophischen Bewegung.

Auch seine Haltung gegenüber anthroposophischen Inhalten im Internet, das er eher in der Gefahr sah, in den Dienst des Bösen gestellt zu werden, trug ihm den Ruf eines orthodoxen Anthroposophen ein. Ein Interview mit NNA sagte er vor einigen Jahren ab, weil der Text im Internet veröffentlicht werden sollte. Eine neue Anfrage hat die NNA-Redaktion dann aufgrund seiner Erkrankung nicht gestellt.

So konnte das beabsichtigte NNA-Interview nicht mehr stattfinden zu seinem Buch »Die okkulte Bedeutung des Verzeihens«, das in der anthroposophischen Bewegung wenig rezipiert wird, in der gegenwärtigen Weltlage aber aktueller denn je erscheint.

Das Verzeihen als moralische Kraft

Betrachte man die Geschichte des 20.Jahrhunderts, des »wohl schwierigsten und tragischsten Jahrhunderts des gesamten Erdendaseins«, schreibt Prokofieff dort, so könne man feststellen, welchen großen Raum das Thema »Schuld« in ihm einnimmt. Dem setzte Prokofieff die »gesundende Kraft« des Verzeihens gegenüber, ohne die im sozialen Leben unserer Zeit ein »lebensfähiger sozialer Organismus faktisch nicht möglich« sei. Im Gegensatz zu Regeln und Vorschriften, die von außen gegeben seien, entspringe das Verzeihen der moralischen Intuition im Inneren jedes Menschenwesens, die Steiner in seiner »Philosophie der Freiheit« mit dem Begriff des ethischen Individualismus charakterisiert habe. Es entspreche einem zukünftigen Ideal von Freiheit und Liebe.

Dass die inneren Kräfte des Verzeihens in der Seele des modernen Menschen »außerordentlich schwach« entwickelt sind, bekümmerte ihn. Durch Geist-Erkennntnis zu den sittlichen Impulsen der menschlichen Entwicklung zu finden – darin sah Prokofieff die besondere Aktualität und »Unersetzlichkeit« der Anthroposophie. Seine »Weltmission des Verzeihens« setzte für Prokofieff eine neue, bewusste Beziehung zu Christus voraus. (nna)