Die Kraft der Musik nach dem «Tod Gottes»
100 Jahre Tonerlebnisvorträge: Fortbildung, Konzerte, Visionsgruppen, Vorträge, freie Begegnungen und gemeinsames Üben in Mannheim, 19. bis 23. April 2023.
Wie kam es dazu, dass in der Waldorfpädagogik Musik als Hauptfach nicht nur «neben … Erziehung und … Unterricht hergeht», sondern diesem «organisch eingegliedert ist» (Rudolf Steiner)?
Und was in Steiners «Tonerlebnis»-Vorträgen bleibt derart inspirierend, dass eine groß angelegte Tagung ihnen nach hundert Jahren nachspüren will?
«Über die Kunst (wird) eigentlich am richtigsten gesprochen, wenn man den Künstlern selber zuhört.» Rudolf Steiner 1918
Blicken wir zurück und zugleich nach vorne: Rudolf Steiner hatte auch Pädagogik neu begründet, quantensprungartig weiter entwickelt und uns neu für Kosmologie und Religiöses geöffnet. Begreifen wir mithin die Welt als Kosmos (griech. Ordnung, Welt, Schmuck, Ehre), so wird jeder Tag zum «day for future»! Das von den Vorfahren Übernommene soll trotz Globalisierung nicht weiter zerstört, sondern bewahrt und weitergeführt werden. So kann das Neue, das in die Welt kommt und kommen soll, Platz finden. Zu unserem eher unsichtbaren Kulturerbe gehören Musica humana (griechisch: Harmonia-Psyché) und musica mundana (Harmonia-Kósmos). Diese waren (auch) von Steiner als Kulturerbe aufgegriffen und weitergeführt worden. Und nachdem hörbare und unhörbare Musik in Kulturen, Epochen und Ethnien stets mit himmlischen, göttlichen Attributen verbunden waren, schließt Steiners «Tonerlebnis»-Reihe im März 1923 mit dem Impuls: «die Götter wiederfinden» zu können. Hierbei fange «der Engel … in mir an, Musiker zu werden».
Was bedeutet das?
Gott tot?
Zur Zeit von Materialismus, Positivismus und oft genug schonungsloser Industrialisierung, durch welche sich Steiner herausgefordert sah, war der auch musikalisch begabte Pastorensohn F. Nietzsche schriftstellerisch hoch aktiv. Der junge Steiner schrieb «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit», nachdem er 1893 seine «Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung» fertiggestellt hatte.
Ende der 1880er Jahre war mit Nietzsches «Fröhlicher Wissenschaft» die Szene vom «tollen Menschen» ins Bild gesetzt: Tagsüber mit Laterne auf öffentlichen Platz unterwegs, stachelt er Mitmenschen auf, ruft wachrüttelnd: «Gott ist tot», «wir haben ihn getötet».
Dieses die Moderne erschütternd beschreibende Nietzschewort hatte Steiner längst wahrgenommen, als er betonte, inwiefern das Musikalische, und das gilt ja nach wie vor, jeden von uns mit der «geistigen Heimat des Menschen» zu verbinden vermag. Der an der Mannheimer Tagung «100 Jahre Tonerlebnis im Menschen» sehr wesentlich beteiligte Iru Mun resümiert im Kommentarband zu Steiners Tonerlebnis: «Betrachtet man die Musik als spirituelle Realität, die ihren Ursprung in der geistigen Welt hat, so wird das grundlegende Auswirkungen auf die musikalische Erziehung und Selbsterziehung» haben!
All dies und der Teilbereich der Audiopädie kann nicht verstanden werden ohne Steiners einzigartige Sinneslehre, die m. E. zu den stärksten Säulen der Waldorfpädagogik gehört. Muster und Rätsel des Klingenden, Tönenden, Musikalischen - und der Kunst überhaupt - sollen bewusst wahrgenommen und schöpferisch gestaltet werden, bevor sich der Verstand sich ins Erlebnis schiebt.
Vom Kleinsten, dem wahrgenommenen Ton, zur Befruchtung des Musikunterrichts
Der musikalische Ton gehört, ob nun gesungen, gestrichen, gezupft, geblasen oder perkussiv geschlagen, mit seiner ebenso geordneten wie ordnenden Struktur (naturgesetzlich zuverlässigen Periodik von Grundschwingung und Obertönen) zu den kleinen Wundern der Welt, und an diese gilt es anzuknüpfen!
Eben dies unternimmt im April 2023 die große Tagung in Mannheim. In Form von Konzerten, Visionsgruppen, Vorträgen, Fortbildungsangeboten, freien Begegnungen und gemeinsamem Üben entsteht eine inspirierende Atmosphäre.
Die Dozierenden aller Lehrer:innenbildungsseminare sind beteiligt. Die Initiative ging von Reinhild Braß, Martin Tobiassen (beide Witten) und Iru Mun (Mannheim) aus. Indem Sinneslehre auf das «Tonerlebnis» fokussiert wurde, hat sich eine unerhört zukunftsfähige Blüte für das Hören der heranwachsenden Schüler:innen in der Audiopädie herausgebildet. Wegweisend hier die an der Tagung maßgeblich beteiligte Reinhild Brass, etwa mit «Dem Hören vertrauen» und bereits mit dem früheren Buch «Hörwege entdecken»!
Die in gewisser Hinsicht unerhörte Initiative Steiners vor recht genau 100 Jahren lautete: «Das Kind, das an die Kunst herangeführt wird, reift zum ‹Schaffen›. Im ‹Können› gibt der Mensch sich aus; im ‹Schaffen› wächst er an seinem Können … empfängt zu seiner Menschlichkeit eine zweite»
Eingeladen fühlen sollen sich alle Musiklehrer:innen, Erzieher:innen, Instrumentallehrer:innen, freischaffende Musiker:innen, Eurythmisten:innen, Freund:innen der Waldorfpädagogik! Die Kenntnis der Vorträge Steiners zu Tonerlebnis, Musik und Pädagogik ist nicht Voraussetzung, wohl aber ein gemeinsamer Bezugspunkt der Tagungsbereiche.
In Instrumentalgruppen vorbereitet, wird über die Tagungsthemen hinaus eine improvisierte/komponierte Musik erarbeitet, die von der Thematik der Vorträge inspiriert ist (Konzeption/Komposition: Iru Mun, Martin Tobiassen).
Der Horizont reicht im übrigen vom Oratorium Messias bis zu Bewegungsspielen, Bodypercussion, Improvisation, Audiopädie, Stimmenthüllung, indischem Dhrupad-Gesang (Workshop und Konzert Amit Sharma Bandhavi).
Forschungsfelder reichen von Steiners Satz «in einem Ton kann die ganze Schöpfung in der Seele sich ausdrücken» bis hin zu seiner Oktav-Lehre, dass nämlich die Oktav noch gar nicht wirklich begriffen, ergriffen ist. Und die Prim? Ebenso!
Steiners Anregungen zur Terzen-, Quinten- und Oktavstimmung werden mit Blick auf zeitgemäße Schulmusik fortgeführt, Visionsgruppen widmen sich den Grundintervallen der Musik.
Ermutigung entsteht für alle beginnenden Musikpädagogen:innen in unserer Zeit und ihren Notwendigkeiten, Vertiefung und Anregung für Erfahrene. Jüngere und jüngste Entwicklungen im Instrumentenbau können ebenso wahrgenommen werden, um daraus weitere Anregungen für den Musikunterricht zu gewinnen. Die Tagung wird der Besinnung einen ganzen Reigen musikalischer Qualitäten dienen, die zur Grundlage individueller, selbständiger Arbeit werden können.
Julius Knierims Artikel «Musiktherapie» ist greifbar in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1. Auflage, Kassel 1986, Bd. 16, S. 1342 ff.
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