Rechtswidrige Schulgeldpraxis in Berlin und Hessen

In beiden Ländern wird damit der Auftrag des Grundgesetzes, eine Sonderung der Schüler nach Besitzverhältnissen zu verhindern (Artikel 7 Absatz 4), nicht erfüllt. Das zeigt eine neue Studie der Forscher Michael Wrase, Laura Jung und Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Sie haben untersucht, wie unzureichende Regelungen und Kontrollen dazu führen, dass viele Kinder aus einkommensschwachen Familien Privatschulen nicht besuchen können. Dazu haben die Autoren erstmals die Schulgelder an allen Schulen in freier Trägerschaft in den beiden Ländern erhoben bzw. ausgewertet.

In einer bereits 2016 veröffentlichten Studie hatten der Jurist Michael Wrase und der Bildungssoziologe Marcel Helbig gezeigt, dass die Mehrheit der Bundesländer bei der Genehmigung von privaten Ersatzschulen Vorgaben des Grundgesetzes missachtet. Mit Berlin und Hessen haben die Forscher nun für zwei Bundesländer geprüft, welche Auswirkungen Regulierungs- und Kontrolldefizite auf die Schulgeldpraxis und damit auf die soziale Ungleichheit an Privatschulen haben.

Das Beispiel Berlin

Berlin steht exemplarisch für die Gruppe jener Bundesländer, die die Höhe des zulässigen Schulgeldes gesetzlich nicht ausdrücklich regeln und nur auf Verwaltungsebene Vorgaben für das Schulgeld machen. Der Senat erlaubt hier aktuell ein zulässiges Schulgeld in Höhe von 100 Euro pro Monat für Familien mit einem jährlichen Bruttojahreseinkommen bis 29.420 Euro. Diese Grenze verfehlt nach Prüfung der Autoren jedoch das vom Grundgesetz vorgeschriebene Sonderungsverbot, da sich viele Familien in Berlin solche Schulgebühren nicht leisten können. Wie die Autoren ausführen, beruht die Grenze zudem auf einer unzureichenden Rechtsgrundlage.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Praxis von mangelnder Kontrolle und Nichteinhaltung der Vorgaben geprägt ist. Die Mehrheit der Berliner Privatschulen verstößt im Schuljahr 2016/2017 gegen die Vorgaben des Senats. Von 94 Grundschulen in freier Trägerschaft halten nur 30 die Vorgaben ein, von den 67 privaten Sekundarschulen nur 21 – fast ausschließlich Schulen mit religiös-weltanschaulicher Ausrichtung.

Der Verstoß gegen die Vorgaben schlägt sich in der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft nieder, die sich an den Schulen in freier Trägerschaft deutlich von jener an öffentlichen Schulen unterscheidet. Dies belegen die Forscher durch den Anteil lernmittelbefreiter Schüler – ein Indikator für Einkommensarmut der Eltern. Während an öffentlichen Grundschulen (Klasse 1 bis 4) rund 36 Prozent Schüler eine Lernmittelbefreiung haben, beträgt dieser Anteil am privaten Pendant nur 7 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt der Vergleich der Sekundarschulen.

Das Beispiel Hessen

Hessen gehört zu jenen Bundesländern, die ganz auf Vorgaben für die privaten Ersatzschulen verzichten und angeben, in Einzelfallprüfung über die Höhe des zulässigen Schulgeldes zu entscheiden. Das Regulierungs- und Kontrolldefizit führt in der Praxis dazu, dass zahlreiche Schulen mit ihren Gebührenordnungen gegen das Sonderungsverbot verstoßen. So beträgt das durchschnittliche Schulgeld an den 152 Privatschulen in Hessen 312 Euro pro Monat. Die Hälfte (46 Prozent) der freien Schulen verlangt Schulgebühren über 200 Euro. Schulgebühren von 300 bis 600 Euro sind keine Seltenheit (18 Prozent aller Privatschulen). Zudem wird nur in jeder zweiten Privatschule das Schulgeld für Kinder aus einkommensschwachen Familien erlassen. Hinzu kommen verdeckte Schulgebühren. So verlangt die Hälfte der Privatschulen eine durchschnittliche Aufnahmegebühr von 500 Euro, 17 Prozent erheben einen verpflichtenden Beitrag für den Förderverein.

Auch in Hessen können daher nur wenige Schüler aus einkommensschwächeren Haushalten Privatschulen besuchen. Selbst an den Schulen, wo ein Schulgelderlass gewährt wird, profitieren nur 2 Prozent (Median) der Schüler davon – deutlich weniger als der Anteil von 14 Prozent der unter 18-Jährigen, die in Hessen Sozialleistungen beziehen.

Privatschulförderung

Der Förderanspruch von Schulen in freier Trägerschaft rechtfertigt sich nach dem Bundesverfassungsgericht aus dem „sozialstaatlichen Gehalt“ des Sonderungsverbots (Artikel 7 Absatz 4 Grundgesetz). Voraussetzung für die staatliche Förderung ist demnach, dass Privatschulen Kindern aus allen Familien offenstehen müssen – „ohne Rücksicht auf ihre finanziellen und Verhältnisse“ und ihre „wirtschaftliche Lage“.

Wie die Forscher in ihrer Studie feststellen, unterstützen die Systeme der Privatschulförderung in Berlin und Hessen in ihrer gegenwärtigen Fassung jedoch die Sonderung nach dem Einkommen der Eltern. Mehreinnahmen durch hohe Schulgelder können hier – anders als teilweise in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz oder (zukünftig) Baden-Württemberg – ohne Anrechnung auf den staatlichen Förderanspruch aufgeschlagen werden. Dadurch werden Privatschulen, die besonders hohe Schulgelder erheben, vom Staat ebenso gefördert wie Schulen mit einem höheren Anteil von Kindern aus einkommensschwächeren Familien, die deutlich geringere Einnahmen erzielen. Eine Anrechnungsregel kann eine solche ökonomische Fehlsteuerung verhindern. Die Förderung muss, um ihren Zweck zu erfüllen, mit klaren Vorgaben zur sozialen Zugänglichkeit verbunden sein.

Ein Blick nach Baden-Württemberg

Dass die Politik Regelungen schaffen kann, die dem Sonderungsverbot des Grundgesetzes Rechnung tragen, zeigt das Beispiel Baden-Württemberg. Als in weiten Teilen richtungsweisend bewerten die Forscher den aktuellen Gesetzentwurf zur Novellierung des dortigen Privatschulgesetzes. Dieser sieht als Grenze für das durchschnittliche Schulgeld 160 Euro pro Monat vor. Zwingend vorgeschrieben wird eine Einkommensstaffelung der Elternbeiträge, die zudem maximal 5 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens betragen dürfen.

Originalpublikation: Michael Wrase, Laura Jung, Marcel Helbig: Defizite der Regulierung und Aufsicht von privaten Ersatzschulen in Bezug auf das Sonderungsverbot nach Art. 7 Abs.5 S.3 GG: Rechtliche und empirische Analyse der Regelungen in den Bundesländern Berlin und Hessen unter Berücksichtigung des aktuellen Gesetzentwurfs der Landesregierung in Baden-Württemberg, WZB Discussion Paper; P 2017-003, 65 Seiten.

Die Studie steht als PDF zum Download zur Verfügung: https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2017/p17-003.pdf