Auch ich wäre aussortiert worden

Friedhelm Garbe

In der 4. Klasse waren meine Noten so schlecht wie nie wieder. Ich war langsam, verträumt und wollte spielen. Es leuchtete mir auch nicht ein, warum man »ihr« mit »h«, aber »vier« mit »e« schreiben sollte. Wozu sollte das gut sein? Und ein Wort wie »Gymnasium« hätte ich in diesem Alter noch gar nicht entziffern können. Aber das brauchte ich auch nicht, denn ich hatte Glück: Ich lebte in der DDR, da gab es kein Gymnasium. Nein, in der DDR zu leben war kein Glück! Und meine Schulzeit unter einer Parteidiktatur war alles andere als ein Kinderspiel. Es war furchtbar, wirklich! Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber dennoch, eine historische Errungenschaft war für uns selbstverständlich, die uns 1989 wieder genommen wurde: das gemeinsame Lernen. Am Ende der 4. Klasse kannten wir keine Auslese, keine Selektion. Alle konnten bleiben. Das war keine Formfrage, die man so oder so hätte handhaben können, sondern meine Rettung. Ganz konkret! Bleiben zu dürfen war wie ein Schutzraum, der mich davor bewahrte, schon frühzeitig unter die Räder zu kommen. Es hätte doch kein Hahn nach mir gekräht, wenn ich damals durch das Sieb gefallen wäre. So schwache Leistungen in der 4. Klasse, was soll da noch draus werden? Wo es Gewinner gibt, muss es ja schließlich auch Verlierer geben, ist doch klar. Und außerdem: Er ist ja selber Schuld, er hätte sich mehr anstrengen müssen.

Was bedeutet »später«?

Als Neunjähriger wusste ich wirklich nicht, was die anderen alle von mir wollten. Ich schämte mich und mir taten die Lehrer leid. Sie meinten es gut, erklärten mir geduldig, wofür das, was ich jetzt lernen sollte, später wichtig sei. Aber was bedeutet »später«, »wenn ich groß bin«? Wie fühlt sich das an? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Und doch hätte ich ihnen gern diesen Kummer erspart. Aber das Leben ging trotzdem weiter, es hingen ja glücklicherweise keine Berufs- und Lebensentscheidungen von meinen Unfähigkeiten in den ersten Schuljahren ab. Denn selbstverständlich durften wir alle zusammenbleiben, in der gleichen Schule, zehn Jahre lang. Ohne Frage. Das war ein tragendes Fundament, das mir Entwicklungszeit gewährte. Nicht auszudenken, wenn mir dies nicht ermöglicht worden wäre!

Gemeinsam in die Pubertät

Wann ich dann aufgewacht bin? Hätte ich im Westen gelebt, wäre es wahrscheinlich kurz nach dem Hauptschulabschluss gewesen – wenn ich ihn denn unter solchen Umständen überhaupt bestanden hätte. Aber auch dieses Wort kannte ich damals noch nicht, denn als ich allmählich erwachte, befand ich mich in einer »Allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule«, wie damals jede Schule bis zur 10. Klasse hieß. Und erst danach begann die »Erweiterte Oberschule«, die zum Abitur führte. Zwar nicht für mich, denn allein schon politisch war ich nicht tragbar, ganz abgesehen von meinen Leistungen. Aber das gehört nicht hierher. Tatsache ist, dass ich mit dem angehenden Atomphysiker und der künftigen Ärztin selbstverständlich zusammenbleiben durfte, gemeinsam lernte, gemeinsam in die Pubertät kam. Hatten diese Schnelleren, sozusagen die Frühbegabten, einen Nachteil davon, dass auch schlechtere Schüler in der Klasse waren? Warum sollten sie? Mein Banknachbar und bester Freund war das Mathe-As. Er schob gern sein Heft in mein Blickfeld, wenn es um Punkte und Zensuren ging, weil er sich immer freute, mir etwas Gutes zu tun. Denn wir waren nicht nur beim Fußballspielen Freunde, sondern er suchte meine Nähe gerade auch deshalb, weil ich so anders war.

Es waren fremde Welten für ihn, was mich spätestens seit der 8. Klasse zu interessieren begann: gute Musik (aus dem Westen), Hintergrundinformationen zu politischen Entwicklungen, der Sinn des Christentums – lauter Dinge, die in der Schule und in seinem Elternhaus gar nicht vorkamen.

Denkgewohnheit des Maschinenzeitalters

Später, als wir am 4. November 1989 auf die Straße gingen für kindgemäße Schulen – frei von Einflüssen aus Wirtschaft und Politik –, da gab es niemanden unter uns, der ein sogenanntes gegliedertes Schulsystem einführen wollte. Die Wirklichkeit gemein­samen Lernens hatte den Praxistest längst bestanden. Und es berührte uns, als wir uns nun klarmachten, dass wir diesen kulturellen Fortschritt letztlich Rudolf Steiner verdankten. Denn in der Waldorfschule war die pädagogische und politische Bedeutung der Gesamtschule zuerst erkannt worden. Aber Grundschule und dann Selektion – das erschien uns als Rückfall in Denkgewohnheiten des Maschinenzeitalters. Unter den Produktionsbedingungen des 19. Jahrhunderts war es folgerichtig, die produzierte Ware zu prüfen und beste Qualität von zweiter Wahl zu trennen. Insofern ist es verständlich, wenn dieses Prinzip damals auf Schulen angewendet wurde. So war das mechanistische Weltbild des vorvorletzten Jahrhunderts. Aber heute?

Angesichts der Entartungen und Abgründe des 20. Jahrhunderts ist unser Blick auf das Menschliche vielfach gereift. Wir mussten nicht nur lernen, die Gefahren menschlicher Normierung kritischer sehen zu lernen, sondern wir erleben auch immer klarer die lichthaft-spirituellen Möglichkeiten vieler Kinder und Jugendlicher. Unter Pädagogen ist es längst kein Geheimwissen mehr, dass die entscheidenden Entwicklungsschritte des Menschen oft gerade nicht im Gleichschritt des Lehrplans, sondern überraschend individuell getan werden. Differenziert zu unterrichten – in künstlerischem Sinne – gehört deshalb zu den Grundanforderungen zeitgemäßer Pädagogik. Diese Erfahrung machen die meisten Klassenlehrer heute bereits in der ersten oder zweiten Klasse.

Pädagogischer Darwinismus und gesellschaftliche Konsequenzen

Wer jedoch noch heute pädagogisch auf Selektion setzt, und – als Voraussetzung dafür – auf zeitliche Normung, wird die zunehmend fatalen Folgen solchen mechanistischen Denkens zu verantworten haben: Die einen können oder wollen es nicht mehr ertragen, so gesehen und behandelt zu werden, und verweigern sich. Man nennt sie gern »schwierige Kinder«. Die anderen haben kein Problem damit und bemerken es vielleicht selbst kaum, wie sie immer mehr zur Maschine, zum angepassten Denkautomaten werden. Sie gelten dann als erfolgreich. Wer die Schule als Zulieferer für einen sogenannten Arbeitsmarkt ansieht – und so wird in politischen Verlautbarungen recht unverhüllt gesprochen –, wird damit kein größeres Problem haben. Er benutzt den Begriff »Gegliedertes Schulsystem« als beschönigende Bezeich­nung für Selektion. Denn selbstverständlich hält er den pä­- dagogischen Darwinismus für die angemessene Lernform des Banken-Kapitalismus – eine in sich stimmige Überzeugung.

Signal eines gesellschaftlichen und politischen Aufbruchs

Dieser Zusammenhang lässt erahnen, warum die Überwindung schulischer Selektion ein Kernanliegen der Waldorfpädagogik ist. Die erste Waldorfschule, gegründet in einer schwierigen Weltlage, sollte zum Signal eines gesellschaftlichen und politischen Aufbruchs werden, um eine bereits sich ankündigende nächste Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu verhindern. Das ist nicht gelungen. Als Nachgeborene haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, wohin der Selektionsgedanke konsequenterweise geführt hat. Das Ringen um eine gemeinsame Schulzeit für alle gehört deshalb schon lange nicht mehr in die Privatsphäre persönlicher Meinungen. Klimaprognosen, Rohstoff-Kriege und der Zusammenbruch des auf Egoismus gegründeten Finanzsystems – überall wird uns gespiegelt, dass neue Formen des Miteinanders unter uns Menschen überfällig sind. Auch deshalb ist uns die gemeinsame Schulzeit an der Waldorfschule so wichtig. Bewusst praktizieren wir bereits ein Stück Zukunft, indem wir zusammenbleiben in aller Unterschiedlichkeit – und erfahren, wie bereichernd das ist.

Zum Autor: Friedhelm Garbe, Schulzeit in Dresden, war Orgelbauer, studierte Theologie und wurde ev. Pfarrer. Ab 1990 Studium der Waldorfpädagogik in Kiel, Klassenlehrer in Jena, heute überwiegend in der Lehrerbildung tätig (www.waldorf-fernstudium.de). Er ist verheiratet und hat drei Kinder.