Bis’d hikumscht

Siegmund Baldszun

Liebe Schüler, Eltern, Freunde und Gäste,

alle Jahre wieder versammeln wir uns um die Oberuferer Weihnachtsspiele anzuschauen, die Weihnachtsspiele aus Oberufer. Aus Oberufer? Ja, das ist weit über 150 Jahre her so weit, dass man kaum noch weiß, woher diese Spiele eigentlich stammen. Und man möchte fast fragen: Ischt’sweit dohin? Und hört schon die Antwort: Bis d’hikumscht. Ja, ja … Wo ist Oberufer heute?

Und wir schweigen und hören und schauen – wie gut das heutzutage tut! – , und begegnen ihnen wieder den altbekannten Gestalten, Sternsinger, Engel, Teufel, Adam, Eva, Maria, Joseph den Hirten und Wirten, all diesen Gestalten die wir lieben oder die wir mit Misstrauen betrachten … Diese unerschöpflichen Bilder bewegen uns als kleine und große »alte« Kinder, und manchmal leuchtet der Goldgrund des Verstehens aus dem rätselvollen Dunkel auf. Denn dieser Goldgrund, der früher gefühlt wurde, kann heute bewusst aufgesucht werden.

In Abwandlung einer alten chassidischen Weisheitsgeschichte möchte ich sagen: als die alten Bauern in Oberufer früher, nach der Ernte das Gefühl bekamen, man sollte einmal wieder die jungen Leute die ehrwürdigen Spiele aufführen lassen, da gingen sie zum »Lehrmaschter« dieser Spiele (1827 war es noch David Malatitsch, der diese Kunst von seinem Vater geerbt hatte) der den Text und die Kostüme verwaltete, und es wurde jeden Tag geprobt und gesungen und dann zog man von Dorf zu Dorf und spielte im Wirtshaus

Wenn eine Generation später die Menschen aus Oberufer spielen wollten, sagten sie: die Requisiten und Kostüme gibt es nicht mehr, sie sind beim Brand in Oberufer vernichtet worden, einen echten Lehrmeister gibt es auch nicht, wir haben nur das Textbuch, welches Karl-Julius Schröer damals erworben hatte. Aber wir kennen die Sprache gut und haben unsere Alten die von früher erzählen. Das muss genügen. Und es genügte.

Als wieder eine Generation später die Anthroposophen in Berlin, Dornach und Stuttgart mit Rudolf Steiner spielen wollten, sagten sie: wir sind keine Bauern mehr, wir kennen den Dialekt nicht, wir können auch nicht mehr durch die Dörfer ziehen, aber wir haben Dr. Steiner, der uns alles lebendig vorspielt, den Text vervollständigt und für unsere Zeit neu eingerichtet hat und vieles über diese alten Spiele zu berichten wusste. Das muss genügen. Und es genügte.

Wenn dann wieder eine Generation später, nach dem 2.Weltkrieg, die Waldorflehrer an den Schulen die Weihnachtsspiele spielen wollten, so sagten sie sich: Wir sind keine Bauern, wir wissen nichts mehr von Oberufer und der dortigen Sprache, wir haben auch keinen Dr. Steiner mehr, aber wir haben unser Textbuch, wir haben die Musik aus Dornach, wir haben schöne Kostüme, die die Handarbeitslehrerinnen für uns gefertigt haben und wir wissen von den alten Kollegen, wie früher unter Karl Schubert (oder Rainer Lechler hier in Stuttgart) geprobt wurde. Das muss genügen. Und es genügte, … meistens.

Wenn wir nun heute, 2014, die Oberuferer Spiele spielen, so müssen wir uns sagen: wir leben im 21. Jahrhundert, die Waldorfschule wird bald 100 Jahre alt, wir kennen den Dialekt nicht, wir wissen nicht, welche der inzwischen erforschten Textgrundlagen die authentischste ist, welche der inzwischen vielfältig entstandenen neuen Musiken wir nehmen sollen, welche Inszenierungsart die überzeugendste sein könnte, aber wir haben jetzt auch unsere Schüler, die mithelfen, wir können aus einem tastenden künstlerischen Empfinden heraus das, was wir aus den vielfältig veröffentlichten Berichten, Forschungen, Diskussionen  und Erzählungen hören, was wir neu aus den Texten Rudolf Steiners im Gespräch mit den Kollegen erarbeiten, das können wir nehmen und mit Freude und Enthusiasmus in die Weihnachtsspiele verwandeln, …für die Kinder und Eltern.

Und angesichts der Not der Zeit, angesichts des Hungers nach wahren, lebendigen, gesunden Bildern kann ich nur sagen: Möge es gelingen und genügen!