Beruht Waldorfpädagogik auf Wissenschaft?

Johannes Kiersch

Ullrich scheut sich nicht, die kulturellen Wirkungen Steiners mit Sympathie zu würdigen, besonders die Waldorfpädagogik. Offensichtlich hat er seine früher vertretene, radikal kritische Sicht inzwischen revidiert. In einem Punkt jedoch bleibt er hart: Anthroposophie, das theoretische Fundament der Waldorfpädagogik und bis heute ihr wichtigstes Spezifikum, sei eine reine Glaubenssache, eine Art Rückfall in vorwissenschaftliche Formen des Weltverstehens. Ullrich stützt sich dabei auf die heute im akademischen Mainstream immer noch weit verbreitete Auffassung vom Wesen wahrer Wissenschaft, wie sie besonders deutlich von dem französischen Wissenschaftshistoriker Gaston Bachelard (1884-1962) vertreten worden ist.

Demnach trenne sich wirklich »wissenschaftliches« Denken durch einen »epistemologischen Schnitt« (coupure épistémologique) vom naiven Alltagswissen und erreiche durch Modellbildungen und quantitative Verfahren fortschreitend zuverlässigere Erkenntnis auf dem Wege der Abstraktion. Gegen diese einseitige Perspektive sind mehrere Einwände zu erheben. Ullrich vernachlässigt, dass Steiner sich immer wieder gegen eine schematisierende Fixierung seiner Begriffsbildungen gewehrt hat. Sein anthroposophisches Grundlagenwerk »Theosophie«, sagt Steiner, könne wie ein »Kochbuch« gelesen werden; damit aber sei sein eigent­licher Zweck, als Übungs- und Schulungsbuch zu wirken, völlig verfehlt.

Auch übergeht Ullrich mit seinem Argument kommentarlos bedeutende Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie, die seinem extrem reduktionistischen Begriff von Wissenschaft entgegenstehen. Besonders ärgerlich ist es, dass er den Entdecker des Begriffs der »symbolischen Formen«, Ernst Cassirer, für seine Sicht der Dinge instrumentalisiert. Bekanntlich hat Cassirer gezeigt, dass die Erkenntnisweise der neuzeitlichen Wissenschaft, der theoretische Symbolismus, keineswegs die einzige »symbolische Form« ist, in welcher sich der Mensch bewusst dem Sinngehalt der Welt nähert; dass daneben Sprache und Mythos, aber auch die Künste, Ritual und Technik und möglicherweise weitere symbolische Formen als Modalitäten erkennender Weltbewältigung gesehen werden können. Ullrich übersieht, dass Steiner in dem schwierigen Prozess des Verstehens und Beschreibens »übersinnlicher« Wahrnehmungen alle symbolischen Formen für die bewusste Erfassung des zunächst begriffslos Geschauten einsetzt, auch den theoretischen Symbolismus. Auch zeigt ein unvoreingenommener Blick auf das Werk Cassirers, dass es diesem keineswegs primär darum zu tun war, den mythischen Symbolismus als vorwissenschaftliche Denkform zu diskreditieren, sondern vielmehr darum, seine aktuelle Funktion im Sozialleben der Gegenwart neben dem heute in Forschung und Praxis einseitig favorisierten Symbolismus des theoretischen Erkennens zu beschreiben. Wer das soziale oder gar das kulturelle Leben der Menschheit allein aus der Perspektive des theoretischen Symbolismus organisieren will, richtet Schaden an. Cassirer wusste das. Steiner hat nach dieser Einsicht gehandelt.

Damit kommen wir zum gewichtigsten Einwand: Befangen in der Einseitigkeit seines Arguments hat Ullrich, wie schon vor ihm die bekannten Waldorf-Kritiker Klaus Prange und Helmut Zander, die beiden zentralen methodologischen Texte, mit denen Steiner die Wissenschaftlichkeit seiner Anthroposophie untermauert hat, völlig übersehen: Steiners Vortrag auf dem Internationalen Philosophie-Kongress in Bologna im Jahre 1911 (GA 35) und sein Buch »Von Seelenrätseln« von 1917 (GA 21). Im »Bologna-Vortrag«, wie er heute oft genannt wird, stellt Steiner das Prinzipielle der von ihm entwickelten esoterischen Übungswege dar. Er beweist dort nicht die Faktizität übersinnlicher Gegebenheiten, zeigt aber, dass solche Gegebenheiten denkbar sind.

In »Von Seelenrätseln« beschreibt Steiner empirische Forschung, die von Sinnes­daten ausgeht, und anthroposophische »Geistesforschung« als zunächst völlig getrennte Diskursfelder, die aber im vermittelnden Bereich einer von beiden Seiten geförderten »Philosophie über den Menschen« zusammenfinden können. Was sich auf den Übungswegen der Anthroposophie als individueller Erkenntniszuwachs ergibt, bleibt bei Steiner überall offen. Steiner versteht seine Schilderungen als Hilfsmittel im Sinne von Reiseführern zu authentischer eigener Erfahrung. Was sich dem »Geistesforscher« zeigt, ist ebenso wenig vorhersehbar wie der neue Schmetterling oder die noch nirgendwo verzeichnete exotische Blüte, die der geduldige Biologe irgendwo im Urwald entdeckt. Sollte sich daraus schließen lassen, dass die irritierenden Aussagen Steiners über höhere Welten a priori als phantastischer Unsinn zu betrachten sind?

Worum es bei anthroposophischer Forschung geht, zeigt besonders einleuchtend das neue Buch des amerikanischen Quantenphysikers, Wissenschaftshistorikers und langjährigen Anthroposophen Arthur Zajonc über »Meditation als besonnenes Nachfragen«. Zusammen mit Parker J. Palmer zeigt Zajonc eindrucksvoll, wie sich aus verwandten Überlegungen neue Strategien für Forschung und Ausbildung an amerikanischen Hochschulen entwickelt haben. Offensichtlich haben wir allen Grund, die epistemologischen Ansätze Steiners weit über die Grenzen der anthroposophisch orientierten Lebenswelt hinaus ernst zu nehmen – und ihre Validität für die Praxis der Waldorfschulen bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils nicht in Frage zu stellen. 

Literatur:

Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre, München 2011;

Arthur Zajonc: Aufbruch ins Unerwartete. Meditation als Erkenntnisweg, Stuttgart 2010;

P. J. Palmer & A. Zajonc: The Heart of Higher Education. A Call to Renewal. Transforming the Academy through Collegial Con­versations, San Francisco 2010