Ausgabe 04/24

Blick durch die Filmlinse auf die Soziale Dreigliederung

Jonas Rybak

«Wie anders hob sich die Brust, wenn man solche Gedanken auch nur denken durfte!» So erinnert sich Herbert Hahn, ein Gründungslehrer der ersten Waldorfschule, an das Frühjahr 1919. Per Post hatte ihn Rudolf Steiners erste kurze Veröffentlichung zur Sozialen Dreigliederung erreicht. Ein revolutionärer Beitrag zur damals wie heute brennenden sozialen Frage. Hahn war 28 Jahre alt und ein für Sprachen und Religionen begeisterter Lehrer. Die Dreigliederung überzeugte ihn auf Anhieb – auch weil er ihr Potential für die Bildung erkannte. Schon wenige Monate später gründete er von diesen Gedanken beschwingt gemeinsam mit Rudolf Steiner und weiteren Lehrer:innen und Unterstützer:innen die erste Waldorfschule.

Wir fünf durften alle Knapp 90 Jahre nach Gründung dieser ersten Waldorfschule an verschiedenen ihrer Ableger unsere Schulzeit verbringen. Die Soziale Dreigliederung hingegen lernten wir erst außerhalb der Schule kennen. Trotzdem: welch ein Segen, solche Gedanken auch nur denken, das Wesen von Arbeit, Geld, Bildung, Kapital, Handel erahnen zu dürfen!Wir beschlossen, einen Film darüber zu drehen. Mit dem Ziel, ihn in Oberstufen zu zeigen und so über die Dreigliederung ins Gespräch zu kommen, die wir so gerne schon zu Schulzeiten kennengelernt hätten.

Was ist Soziale Dreigliederung?

Das Besondere an der von Rudolf Steiner erforschten und vertretenen Sozialen Dreigliederung ist, dass sie nicht die eine perfekte Lösung für alle sozialen Probleme verspricht. Sie differenziert vielmehr zwischen drei Perspektiven des gesellschaftlichen Miteinanders. Damit ermöglicht sie, beweglich mit den realen Verhältnissen zu arbeiten. Steiner nannte die drei Perspektiven oder Bereiche Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben.

1. Geistesleben Die Gemeinschaft profitiert stets von den individuellen Fähigkeiten der Menschen. Dass sich heute fast alle einen Schrank aus Holz leisten können, ist möglich, weil Tabitha Babbitt schon vor 200 Jahren die Beobachtungsfähigkeit und das praktische Denkvermögen hatte, um die Kreissäge zu erfinden. Herbert Hahns Gabe dagegen lag im Pädagogischen, im Geschichtenerzählen. Er wurde für viele junge Menschen ein wichtiger Lehrer. Bei beiden war es ihre Einzigartigkeit, die die Gemeinschaft vom Geistesleben aus befruchtete. Um die Welt so beschenken zu können, müssen wir unsere Individualität in Freiheit ausbilden und einbringen dürfen. Das erfordert einen anderen Umgang mit Bildung, aber auch mit Erfindungen und Unternehmen, die Steiner als freies Kapital verstand. Hahn und Steiner haben mit der ersten Waldorfschule für eine Befreiung des Bildungswesens gekämpft. Im Film zeigen wir zusätzlich, wie unverkäufliche Unternehmen die Gemeinschaft befruchten können.

2. Wirtschaftsleben Tabitha Babbitts Erfindungsgeist hat Millionen von Schränken ermöglicht. Gebaut hat sie diese jedoch nicht alleine. Immer mehr Arbeit teilen wir uns auf globaler Ebene in viele Schritte auf und werden dadurch produktiver. Aber wir verlieren auch die Leiden und Bedürfnisse der für uns arbeitenden Menschen aus dem Blick, wenn sie nicht mehr in unserer Nachbarschaft leben. Sowohl der freie (und leider blindmachende) Markt, als auch die staatliche Planwirtschaft sind nicht in der Lage dieses Problem zu bewältigen. Steiner empfahl eine dritte, ganz auf transparentem Austausch aufbauende assoziative globale Vernetzungsmethode fürs Wirtschaftsleben. Dazu gibt es nur wenige zaghafte Versuche. Zwei vielversprechende von ihnen stellen wir im Film vor.

3. Rechtsleben Damit Gesetze nicht überflüssig sind, müssen sie von allen befolgt werden. Auch von Tabitha Babbitt vor 200 Jahren in den USA. Dabei wurde über die Gesetze ohne sie abgestimmt, denn das Wahlrecht für Frauen wurde erst ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod eingeführt. Die Dreigliederung hilft zu verstehen, wie Gesetzeszwang nur noch zu rechtfertigen ist, wenn alle erwachsenen Menschen gleichberechtigt mitbestimmen dürfen. Demokratie ist daher die Hauptforderung für das Rechtsleben. Welche Fragen aus der Perspektive des Rechtslebens behandelt werden können, versuchen wir im Film zu skizzieren.

Erziehung für ein anpassungsfähiges Denken

Weil die Demokratie ein politisches System ohne festgelegtes Ergebnis ist, hat sie über Jahrhunderte nicht an Aktualität eingebüst. Diese Anpassungsfähigkeit erweitert die Soziale Dreigliederung noch. Sie ermöglicht, das Geistesleben und das Wirtschaftsleben als weitere Systeme mit je eigenen Gestaltungsprinzipien zu erfassen. Sie liefert nicht nur eine, sondern drei einander ausgleichende Methoden. Das erzieht das Denken und macht es agil. Und weil eine solche Beweglichkeit für die auf uns zukommenden sozialen Unruhen elementar ist, hoffen wir, dass immer mehr junge Menschen die Gedanken der Dreigliederung kennenlernen können.

Es ist erfreulich, dass die Waldorfschule nicht genutzt wird, um unter Heranwachsenden Propaganda für ein politisches Konzept zu betreiben. Allerdings: Herbert Hahn wurde von Steiners Schrift nicht in blinden politischen Aktivismus getrieben, sondern sie half ihm beim Denken. Die Soziale Dreigliederung ist nicht politischer Standpunkt, sondern ein weltanschaulich offenes Denkwerkzeug. Die Gedankenbewegung kann die Perspektive des Sozialismus einnehmen und die menschlichen Impulse darinnen verständlich machen und gleichermaßen die des Kapitalismus. Sie hilft die Richtigkeit und Unumgänglichkeit der Demokratie zeitgleich mit völliger Kulturfreiheit zu denken. Gerade durch ihre Unfertigkeit und Beweglichkeit ermöglicht sie Verständnis für die diversesten Ansätze und ihre Verirrungen. Sie bildet – und das macht sie wertvoll für die Schule.

Als wir uns mit dieser Überzeugung an die ersten Filmvorführungen und Gespräche in Schulen wagten, wurde schnell eines klar: Die Dreigliederung mag für alle sozialen Fragestellungen eine lebendige Denkhilfe sein, wir jedoch mit unseren begrenzten Fähigkeiten noch nicht immer. Eine der ersten Fragen war: «Wie überwinden wir den Gender Pay Gap?». Ich konnte nur beschämt feststellen, dass mir zu dieser akuten sozialen Frage die Kenntnisse fehlten. Erst hinterher fiel mir auf, wie hilfreich die Dreigliederungsgedanken gerade auch für diese Frage sein können. Ähnlich war das Erlebnis, als ein engagierter und interessierter Schüler mit uns über den Vergleich der Dreigliederung mit neueren «sozialen» Kapitalismustheorien diskutieren wollte. Um die volle Kraft der Dreigliederungsgedanken lebendig zu bekommen, muss man sie in aktuelle Perspektiven schlüpfen lassen können. Darum wollen wir uns in den nächsten Jahren mit einem Forschungsstudium bemühen.

Die Gespräche in Schulen, bei denen uns schon jetzt solch eine Perspektivenbeweglichkeit gelungen ist, waren ermutigend. Steiner und seine Helfer:innen konnten inspiriert von der Dreigliederung eine Schule für ein freier werdendes Geistesleben gründen, die die Bildung auf der ganzen Welt verändert hat. Im Film zeigen wir andere fruchtbare Impulse, die Menschen durch die Dreigliederung finden konnten. Und ich bin gespannt, welche Antworten die Schüler:innen auf zukünftige soziale Fragen finden werden, wenn sie, wie Herbert Hahn, mit der Sozialen Dreigliederung denken lernen dürfen.

Der Film Zusammenspiel – Anregungen zu einer Sozialen Dreigliederung des öffentlichen Lebens von Merit Brinks, Elisabeth Rybak, Mirjam Revers, Paula Kiefer von Jonas Rybak ist frei auf YouTube abrufbar. Für Fragen zu einer Aufführung in Ihrer Schule oder zum Forschungsstudium, wenden Sie sich gern an kontakt@dreigliederungsstudium.de.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.