Ausgabe 03/24

Denn Zeit ist Leben

Petra Mühlenbrock

Gerade in der Pubertät angekommen, bietet der Waldorflehrplan den Schüler:innen der achten Klasse Gelegenheit, in eine fremde Rolle zu schlüpfen und sich dahinter wie versteckt auf der Bühne zu zeigen. Je nach Waldorfschule verschwinden Klassenlehrer:in und Achtklässler:innen drei bis vier Wochen aus dem normalen Unterrichtsalltag und widmen sich mit vollem Einsatz aller zur Verfügung stehenden Kräfte dem sogenannten Achtklassstück. Neben dem Lernen der Rollen gilt es, Leinwände und Plakate zu gestalten, Kulissen zu bauen, Kostüme zu fertigen oder zu leihen, Requisiten zu finden. Die Aufgaben sind vielfältig und ohne die Hilfe der Eltern oft nicht zu bewältigen. Im Laufe der Zeit entsteht daraus eine Gemeinschaft der besonderen Art aus Eltern, Jugendlichen und Klassenlehrer:in: Man lernt sich zum Ende der Klassenlehrerzeit noch einmal aus einer völlig neuen Perspektive kennen.

Im Anfang war die Tat
 

Pädagogisch gesehen ist das Projekt eine Willensschulung par excellence zu Beginn des dritten Jahrsiebts, das mit der Pubertät beginnt. Mit 14 Jahren, wenn die Hormone schießen und sich nicht nur der Körper verändert, will man am liebsten die ganze Welt verändern, neue Projekte angehen, alles anders machen – doch am Anfang steht leider die Tat. Ideen reichen nicht, wenn Vorhaben auf die Erde kommen sollen. Und so folgt zunächst auf die anfängliche Begeisterung irgendwann das leidige Erwachen: Der Text endet eben nicht auf Seite 19, Requisiten und Kostüme kommen nicht daher geweht, wenn man nur die Idee hat, wo es welche geben könnte, und auch Leinwände malen sich nicht von selbst. Dann heißt es auch noch bei jeder Probe: «Lauter sprechen! Deutlich! Langsam!» Das kann einen 14-jährigen Menschen, der eher vor sich hin nuschelt oder noch lieber schweigt, schon zur Verzweiflung bringen. Und schlussendlich die letzte Probenwoche mit den Durchgangs-, Haupt- und Generalproben: Man darf sich nur noch hinter der Bühne aufhalten, muss leise sein, wissen, wann Umbauten sind, von wo Auftritte erfolgen, wohin die Abgänge gehen. Und gut spielen soll man zu allem Überfluss auch. Eine höchst komplexe Anforderung! Wachheit und Geistesgegenwart sind gefordert und das auch noch am späten Nachmittag nach einem langen Probentag! Irgendwann kommt schließlich der Zeitpunkt, an dem alle denken, dass es nicht mehr geht, und dann werden doch Kräfte mobilisiert, von denen niemand zuvor ahnte, dass man sie noch hat, und plötzlich läuft es. Wahrlich ein Wunder, immer wieder.

Von Stundenblumen, Smartphones und Laptops


Besonders gut gelingt diese Herausforderung den jungen Menschen natürlich, wenn sich ein Theaterstück findet, das die Schüler:innen der achten Klasse begeistert. In meinem Fall wurde Momo ein goldener Griff. Mir kam der Gedanke, dass Michael Endes «seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte», nichts von seiner Brisanz verloren hat – nur müsste man die sprachlichen Bilder und Symbole von damals modernisieren, damit sie 14-Jährige von heute berühren. Bei Durchsicht der Dramatisierung erkannte ich, dass sich das gut durchführen ließ. Smartphones und Laptops konnte der Autor 1973 noch nicht thematisieren; er arbeitete mit der Metapher der Stundenblumen, welche im Herzen eines jeden Menschen blühen und durch die Zigarren der grauen Herren zerstört werden. In meiner Inszenierung bekamen statt Zigarren Laptops ihre Energie durch die Stundenblumen und ermöglichten so den grauen Herren und Damen, die Zeit der Menschen zu rauben. Allen Menschen wurden nun von den Grauen im Verlauf des Stückes Smartphones überreicht. Und so kommunizieren weder Nina noch Nino, weder Nicole noch Nicola, und auch nicht Monsieur oder Madame Fusi in der Folge direkt miteinander oder treffen sich gar persönlich, sondern können nunmehr alles von fern per SMS erledigen, denn «das spart Zeit». Als Ergebnis greifen – wie im Original – Isolation, Distanzierung, Hektik und Kälte um sich.

Beängstigend real
 

Die Modernisierung gelang. Als in der zweiten Hälfte die «Kinder» nicht – wie bei Michael Ende – in Depots untergebracht wurden, sondern vor der Kulisse des Münsteraner Prinzipalmarkts standen, in ihre Handys tippten und ein Computerspiel begannen, statt mit Momo zu reden, hatten einige Zuschauer:innen tatsächlich Tränen in den Augen. Der Anblick war einfach zu vertraut und traurig.

Natürlich gewinnt das Kind Momo – dessen Geschlecht schon bei Michael Ende nicht so genau zu bestimmen war und das nun folgerichtig einmal männlich, einmal weiblich besetzt wurde – mit Hilfe der Schildkröte Kassiopeia und Hora, ebenfalls einmal als Madame Hora, einmal als Meister Hora verkörpert, die Zeit von den Grauen zurück und zerstört die Zeitmaschine mit einer Stundenblume. Es entreißt dem Letzten der Grauen das Laptop und erlöst danach alle seine Freund:innen mit dieser Stundenblume aus der Erstarrung. So nahm das Stück ein gutes Ende, und so soll es auf der Bühne einer achten Klasse auch sein.

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