Die stille Revolutionärin

Mathias Maurer

Ute Craemer ist auf Deutschlandreise. Ich treffe sie zum Interview am Stuttgarter Hauptbahnhof. Die 75-Jährige steht mit ihrem Rollköfferchen am Gleiskopf. Alter und Erscheinung tarnen diesen Menschen und seine Mission perfekt. Wir gehen in ein Café und kommen ins Gespräch, ein Gespräch das nach und nach die gewaltige Lebensleistung und Willenskraft dieser scheinbar unscheinbaren Frau zum Vorschein bringt.

Es fing an mit einer Wohnzimmerinitiative bei ihr zu Hause mit zehn, zwanzig, dann hundert Kindern in einer Favela von São Paulo. Damals arbeitete Ute Craemer noch als Lehrerin an der dortigen Waldorfschule. Doch es war in diesem Land eine exklusive Welt der Bildungsbewussten. Sie wollte etwas für die Unterprivilegierten, die unter Gewalt, Armut und gesellschaftlicher Vernachlässigung Leidenden tun. 1979 gründete sie die Associação Comunitária Monte Azul in einer Holzbaracke ohne Wasser, Licht und Infrastruktur, die heute zu einem großen Sozialunternehmen mit über 1.000 Mitarbeitern angewachsen ist und rund 20.000 Menschen in drei Favelas von Sao Paulo zu Gute kommt. Doch die Geschichte dieser ungewöhnlichen Frau beginnt viel früher. Ute Craemer wurde 1938 in Weimar geboren. Ihr Großvater, Professor Hermann Craemer, kannte Rudolf Steiner aus der Zweigarbeit der Anthroposophischen Gesellschaft in Düsseldorf noch persönlich. Dessen überlieferte Aussage, dass die Anthroposophie sich nicht weiterentwickeln werde, wenn sie sich nicht mit dem Impuls der sozialen Dreigliederung verbände, grub sich der Enkelin tief in ihr Lebensgedächtnis ein. Ute Craemers Vater arbeitete als Professor an der Technischen Hochschule in Graz, die Familie wurde, wie alle Reichsdeutschen in Österreich, nach dem Krieg ausgewiesen und zog nach Belgrad. Einige Jahre später ging es weiter nach Alexandria in Ägypten, dann nach Lahore in Pakistan. Ute Craemer lernte schon als Kind verschiedene Sprachen, besuchte nahezu ein Dutzend unterschiedliche Schulen und begegnete den Schattenseiten des kolonialen Imperialismus leibhaftig.

Ihr Wohnhaus lag an der Great Trunk Road, der alten, 2.500 Kilometer langen Handelsstraße, die Indien, Pakistan und Bangladesh verbindet, auf der nicht nur Ware und Kriegsgerät, sondern zahllose Flüchtlinge vorbeizogen. 1956 kehrte sie als Elftklässlerin allein nach Deutschland zurück, die Familie kam später nach. Von Hermann Hesse inspiriert, stellte sie sich nach dem Abitur die Frage, wie sie eine sinnvolle Arbeit mit ihrem Drang nach Selbstverwirklichung in Einklang bringen konnte. In dieser Zeit und während des Fremdsprachenstudiums nahm sie an internationalen Zivildiensteinsätzen der Gesellschaft für Übernationale Zusammenarbeit in Berlin und Frankreich teil. Ihr politisch-humanistisches Bewusstsein erwachte durch den Arbeiterpriester Christien Corré, der auch in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung aktiv war. Die Ernüchterung folgte in der Zeit als Übersetzerin bei Ford in Köln und sie entschloss sich, in die Entwicklungshilfe zu gehen. Der Deutsche Entwicklungsdienst schickte sie genau in die entgegengesetzte Richtung ihres Wunschzieles Asien, nämlich nach Brasilien, genauer: nach Londrina (Klein-London), in eine aufstrebende junge Stadt des Kaffeeanbaus, zur »Slumsanierung«. Der herzliche Empfang durch die Favelabewohner und die spontane Einladung zu einer Hochzeit wurden ihr zum Schlüsselerlebnis – sie war sofort mittendrin im pulsierenden brasilianischen Leben.

Als sie nach zwei Jahren nach Bremen zurückkam, war ihr klar, dass sie mit Kindern arbeiten wollte. Sie machte ein Praktikum an der dortigen Waldorfschule und studierte Waldorfpädagogik in Stuttgart, kehrte schließlich nach São Paulo zurück, wo sie neun Jahre als Klassen- und Sprachlehrerin unterrichtete, bis sie ihre Augen vor dem »zweiten Brasilien« nicht mehr verschließen konnte. Sie wollte durch Erziehung die Menschen fördern, denn Menschen, sagt Ute Craemer, verändern die Welt. Im Kampf für Menschenwürde und Selbstbestimmung in einem rechtsfreien Raum riskierte sie ihr Leben. Im Jahre 2000 wurde sie Opfer eines bewaffneten Überfalls in ihrer Wohnung. Sie war ein sozialer Störfaktor in der von Drogenbanden beherrschten Stadt. Sie wurde über Wochen drangsaliert, fand Unterschlupf bei Freunden in der Stadt. Ihr Motto »Das Wichtigste ist, an die Menschen zu glauben, selbst an die Elendsten«, wurde auf eine harte Probe gestellt.

Nach einem Jahr »Auszeit« in Europa und Asien kehrte sie zurück nach Brasilien, nicht um Abschied zu nehmen, sondern um ihre Arbeit zu intensivieren.

Monte Azul bietet heute Krippen, Kindergärten, Horte, eine Waldorfschule, eine Musikschule und Werkstätten für eine Bäckerei, Tischlerei und Schneiderei die über 1.300 Kinder und Jugendliche ausbilden. Dazu kommt ein Ambulatorium, das Zentrum für Geburtshilfe, Vor- und Nachsorge »Casa Angela« und das Ausbildungsseminar »Mainumby« (Kolibri) für Sozialerziehung, das von Hunderten von Menschen besucht wird. Neben den über 500 Freiwilligen aus aller Welt, arbeiten ständig 250 Brasilianer aus der Umgebung in Monte Azul. Ute Craemer kooperiert mit dem brasilianischen Gesundheitsministerium, das seit 2001 Gesundheitsprogramme für Familien auflegt und zahlreiche Workshops veranstaltet. Durch diese Programme werden in Monte Azul insgesamt 300.000 Menschen erreicht.

Sie gründete die »Alliance für Childhood« in Brasilien, zwei anthroposophische Studiengruppen, verstärkte die Kontakte zu verwandten Initiativen und Stiftungen und arbeitet an einem »Curiculo social« für die brasilianischen Waldorfschulen. Das alles kostet Geld, rund 1,5 Millionen Euro im Monat. Ein Großteil wird über staatliche Programme finanziert, einiges über Stiftungen und Förderkreise. Die Verwaltungsstruktur der »Stadt in der Stadt« ist flach. Es gibt Kommissionen, eine gemeinsame wöchentliche Konferenz der leitenden Koordinationsgruppen der drei Favelas und einmal im Monat einen »Integrationstag«, an dem alle Mitarbeiter teilnehmen.

Seit dem Jahr 2000 hat sich Ute Craemer aus dem Zentrum ihrer Initiative zurückgezogen, denn sie hat Neues vor. Sie steht in engem Kontakt mit einer anderen Pionierin der internationalen anthroposophischen Sozialarbeit. Zusammen mit der Niederländerin Truus Geraets, die vor allem in den Slums von Südafrika segensreich wirkte, möchte sie das Bewusstsein für »Human Development« in den Armutsgebieten der Welt schärfen und den Sozialimpuls der Anthroposophie durch gemeinsame Kongresse ähnlich dem World Social Forum wiederbeleben.

Ute Craemer fühlt sich dem manichäischen Impuls verbunden. Sie greift aufmerksam die schicksalhaften Ereignisse und Menschenbegegnungen auf – unabhängig von Nation, Ethnie, Status und Sprache. Sie verwandelt als Zeitgenossin die äußeren Lebensverhältnisse »von innen heraus«.

Wieder am Bahnsteig. Ich verabschiede mich von Ute Craemer mit ihrem Rollköfferchen. Sie scheint nicht mehr zu besitzen. Ihre Mission zieht mit ihr in die Welt.