Mensch, spiele!

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser!

Raphael ist verschwunden. Ich rufe. Keine Antwort. Stille. Wo ist er? Ich mache mich auf die Suche. In seinem Zimmer, im Haus, im Keller, auf der Straße … Leichte Panik. Raphael ist weg. Und tatsächlich: Als ich Raphael hinter dem Schrank finde, ist er nicht da, sondern wie in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit. Der Zweijährige spielt, selbstvergessen und intensiv. Die Backen glühen, die Zungenspitze aus dem halboffenen Mund. Er hat das Nähkästchen entdeckt. Um ihn herum Scheren, Nadeln, Garnrollen, Knöpfe … Seine Fingerchen bemühen sich unablässig, einen Faden durch die Nadel zu bekommen. – Soll ich ihn stören, korrigieren, helfen und damit herausreißen aus seinem Spiel? Ich ziehe mich leise zurück. Nach einer halben Stunde ruft er nach mir. Stolz präsentiert er mir sein »Werk« – ein Knopf auf einer Stricknadel. – Er ist wieder da.

Spielen sei eine Kindersache? Weit gefehlt. Albert Einstein sagte, Atome zu spalten, sei ein Kinderspiel, verglichen mit dem Kinderspiel. Er erhob das Spiel zur höchsten Form der Forschung. Selbst Karl Marx musste eingestehen: Nur Arbeit und kein Spiel macht dumm. – Wir haben als Erwachsene nur vergessen, wie wir uns und die Welt als Kinder entdeckten.

Spiel ist das volle Leben. Das Leben ist zwar kein Spiel, aber im Spiel lernen wir es im spielerischen Tätigsein – sei es als sportliche, künstlerische oder gedankliche Variation – kennen. Im Spiel sind wir Schöpfer – immer wieder neu – und riskieren uns. Spiel macht unmöglich Gehaltenes möglich. Der Preis ist eine Neuentdeckung oder Niederlage, ein blamabler Fehlschlag oder ein »Heureka« – aber das stört den guten Spieler wenig, denn er hat keine Erwartungen, er spielt um des Spielens willen, weil er sich als Mensch dabei erlebt.

Friedrich Schiller formulierte vollendet in seinen »Ästhetischen Briefen« den berühmten Satz: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

Der Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) machte den spielenden Menschen als Quelle aller kulturellen Systeme aus. Aus Spiel würde Ernst, sobald sich spielerische Verhaltensweisen ritualisierten, als allgemeine Regeln »einspielten« und durch ihren Zwangscharakter dem Spiel wieder die Freiheit austrieben. Der Philosoph Herbert Marcuse machte dafür die Vorherrschaft der »instrumentellen Vernunft« verantwortlich. Nur im Spiel verschaffe sich der Mensch einen Freiraum für seine Selbstentfaltung entgegen allen äußeren Zwängen.

Von all dem weiß Raphael nichts – aber er spielt, um seiner Freiheit als Mensch willen.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer