Deputat oder Stundenplan?

Eugen Riesterer

Rudolf Steiner strebte eine grundlegende Entlastung der Kollegen an: »12 (Wochen-) Stunden ist genügend für den Lehrer. Das ist ein achtstündiger Arbeitstag mit der Vorbereitung« (Konferenz vom 8.9.1919). Sind wir heute noch diesem Ideal der 12-Wochen-Stunden verbunden, oder sind 24 oder mehr Stunden kein Thema mehr?

Steiner formulierte in den »Kernpunkten der sozialen Frage« (1919), dass »ein Verständnis für geistige Güter« nur durch »Muße« geweckt werden könne. Wenn wir aber gestresst durch das Schuljahr hetzen, wird uns der doppelte Sinn des Wortes »Geistes-Gegenwart« verschlossen bleiben und damit das zentrale Ziel pädagogischen Handelns, an dessen Stelle dann schnell Routine und Tradition treten. Auch vor der Überlastung der Schüler – damaliger Anlass waren 44 Wochenstunden in der 10. Klasse – warnte Steiner. Er sah darin den »Grund, warum viele gar nichts können« (Konferenz vom 15.10.1922). Die andere Seite der Deputats-Medaille ist der Stundenplan. Auch hier scheint der Kompromiss längst das Ideelle verdrängt zu haben. Steiner äußert sich am 1. Juni 1919 in Stuttgart deutlich: Der Stundenplan sei eine »Mördergrube für jede wahre Pädagogik«. Und einige Monate später, am 10. August 1919 in Dornach, führt er aus, dass die Ökonomie des Unterrichts nur durch eine Abschaffung des »verfluchten Stundenplans«, dieses »Mordmittels für eine wirkliche Entwicklung der menschlichen Kräfte« erreichbar sei. »Wir dürfen überhaupt nicht mehr daran denken, dass Lehrfächer da sind, damit ›Lehrfächer‹ gelehrt werden; sondern wir müssen uns klar sein: im Menschen vom 7. bis 14. Jahre müssen entwickelt werden in der richtigen Weise Denken, Fühlen und Wollen.«

Eine stundenplanfreie Arbeit – ist das möglich?

In Versuchen über mehrere Jahre, diesen Gedanken in die Schulwirklichkeit überzuführen, habe ich die Erfahrung gemacht, dass die festen Jahrespläne »dynamischer« werden, sich zeitweilig verdichten und wieder auflockern. Nicht selten wird gefordert, der Waldorflehrer solle »Unternehmer« sein. Dessen Kennzeichen ist aber gerade das Gestaltungsrecht über den eigenen Terminkalender, über den eigenen Stundenplan!

Trennen wir uns also vom Begriff der »Lehrfächer«, der etwas Teilendes, Isolierendes in einen fließenden pädagogischen Prozess hineinbringt! Damit kommen wir zu einer notwendigen Beleuchtung der Begriffe »Deputat« und »Stundenplan«. In der Regel handhaben wir beides gleich: Soviel Deputatsstunden, soviel Stundenplanstunden. Dabei übersieht man, dass es sich beim Deputatsbegriff um einen ideellen Begriff handelt, der zunächst »nur« meinen pädagogischen Auftrag beschreibt: nämlich dass ich die Verantwortung für bestimmte pädagogische Entwicklungsprozesse übernommen habe. Hierbei steht eigentlich das Ziel, die Kinder zu fördern und ihre Entwicklung zu begleiten, im Vordergrund. Das WIE der Umsetzung darf damit aber noch nicht festgelegt sein. Denn das hieße, ein Ideeles (Deputat) an ein Materielles (Stundenplan) zu binden.

Wie lässt sich das angerechnete Deputat freier umsetzen?

Ein Fremdsprachenlehrer könnte sich fragen: Wie viel Zeit benötige ich eigentlich in dieser 6. Klasse? Muss ich dort häufiger präsent sein – oder tut ein zeitweiliger Abstand sogar gut? Kann ich die Klasse vorübergehend in Gruppen einteilen? Kann ich mit dem Klassenlehrer verabreden, im rhythmischen Teil eine kleine Impuls-Epoche einzulegen, täglich 20 Minuten lang, für die er bei Bedarf an zwei oder drei Tagen einen dreistündigen Hauptunterricht bekommt? Oder brauche ich kontinuierlich ein oder zwei feste Stunden im Stundenplan? Auch für den Musikunterricht bietet sich vor allem in den unteren Klassen eine Zusammenarbeit mit dem Klassenlehrer im Hauptunterricht an. Warum zwei Musik betreibende Lehrer in derselben Klasse, aber in getrennten Stunden, nicht selten ohne Kontakt zueinander? Eine Kooperation würde auch das Tagespensum der Kinder erheblich entlasten. Wenn dann noch das Spielturnen hinzukäme, wären drei Gebiete in den Hauptunterricht gebracht, und durch die engere Zusammenarbeit dreier Lehrer mehr Qualität bei gleichzeitiger Entlastung der Stundenplanstunden möglich.

Was im Spielturnen möglich ist, könnte auch im Sportunterricht zu einzelnen Unterrichtsänderungen führen, zum Beispiel bei der Behandlung des Griechentums in der 5. Klasse in Form einer olympischen Wettkampf-Epoche im Hauptunterricht. Der Gartenbau könnte konzentriert in die Frühlings- bis Herbstzeit gelegt werden, im Winter dafür (fast) gänzlich ruhen und dann von einem entgegengesetzten Rhythmus im Handarbeits- oder Werkbereich abgelöst werden.

Selbst wenn der Fachlehrer nur außerhalb des Unterrichts sein Gebiet mit dem Klassenlehrer vorbereiten würde – zum Beispiel bei der Einübung von Liedern – und nie im Unterricht erschiene, wüsste die Verwaltung: Er betreut das jeweilige Fach in Klasse 5 – das wären zum Beispiel drei anzurechnende Stunden im Deputat.

Die bisher geschilderten Überlegungen lassen sich umsetzen, ohne dass dadurch die Stundenplanstruktur einer ganzen Schule betroffen wäre. Das Ideal könnte jedoch die komplette Freigabe des Stundenplans sein; an seine Stelle müsste eine Zeitplanung treten, die nicht an Stundentakte gebunden wäre. Und um möglichen Missverständnissen vorzugreifen: Wer ein solches Modell will, muss sich auf Zeiten der Entlastung ebenso einlassen können wie auf konzentrierte, wenngleich zeitlich begrenzte Be-, ja Überlastungen. Wer seine Arbeit nur reduzieren will, wird an der Verantwortung gegenüber Kindern, Eltern und Kollegium scheitern müssen. Auch muss sich der Lehrer immer selbst für die Umsetzung seines Lehrauftrages verantwortlich fühlen. Man wird einwenden, dass die Trennung von Einkommen und Arbeit an Waldorfschulen längst Praxis sei. Sie legt aber nicht nur die Deputatsstunden im Stundenplan fest, sondern beinhaltet auch die einseitig ausgerichtete Erwartung, mehr zu leisten als vertraglich vereinbart ist.

Eine ausführliche Fassung kann per E-Mail beim Autor angefordert werden.