Impfskepsis steigt mit Bildungsgrad

Lorenzo Ravagli

Das Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung in Berlin hat die Daten aus Arztpraxen für 550.000 Kinder, die 2008 geboren wurden, ausgewertet. Im Bundesdurchschnitt liegt die Quote für die erste Impfung bei 86 Prozent, für die zweite bei 62 Prozent.

Trotz permanenter Aufklärung mit entsprechenden Bedrohungsszenarien ist es den Befürwortern flächendeckender Impfungen bis heute nicht gelungen, die Impfbereitschaft in der Bevölkerung zu steigern. Die Propaganda scheint vielmehr das Gegenteil zu bewirken. Während sich 1994 erst 24 Prozent der Mütter in den alten Bundesländern und zehn Prozent in den neuen skeptisch gegenüber Schutzimpfungen äußerten, waren es 2011 bereits 35 Prozent.

Der von manchen Kommentatoren geäusserte Verdacht, an dieser Zunahme der Impfskepsis seien »die Anthroposophen« oder »die Waldorfschulen« schuld, erweist sich bei näherer Betrachtung als aus der Luft gegriffene Unterstellung. Man schreibt damit »den Anthroposophen« oder »den Waldorfschulen« einen Einfluss zu, den sie kaum haben dürften, denn die Zahl der Kinder, die Waldorfkindergärten oder -schulen besuchen oder die aus anthroposophisch orientierten Haushalten kommen, liegt im Promillebereich. Gemäß statistischem Bundesamt besuchen in Deutschland weniger als 1 Prozent aller Schüler Freie Waldorfschulen. Da ohnehin das Urteil verbreitet ist, die der Waldorfpädagogik zugrunde liegende Anthroposophie sei »irrational« und »antiaufklärerisch«, ist noch weniger nachvollziehbar, warum die steigende Impfskepsis, die die Autoren der Studie mit dem höheren Bildungsniveau korrelieren, etwas mit der anthroposophischen Orientierung zu tun haben könnte. Es ist eine alte Taktik ideologischer Beeinflussung, missliebige weltanschauliche oder religiöse Minderheiten für die Verbreitung von Seuchen verantwortlich zu machen, davon zeugt die Geschichte des Antisemitismus. Tatsächlich tragen Kommentatoren, die solche Verdächtigungen verbreiten, gewollt oder ungewollt zu einem irrationalen Klima der Verdächtigung bei, in dem mit Ängsten und Stigmatisierungen hantiert wird. In einem solchen Klima werden die Impfverweigerer selbst zu »Keimen«, die vom »Immunsystem« der gesunden Gesellschaft bekämpft werden müssen.

Die Befunde der Untersuchung sprechen für sich: In Regionen mit vielen hochqualifizierten Frauen werden Kinder weniger geimpft, gibt es hingegen viele Hartz-IV-Empfänger in einem Kreis, steigt die Impfquote. Man darf davon ausgehen, dass die »hochqualifizierten Frauen« – auch in medizinischer Hinsicht – aufgeklärter und bildungsnäher sind, als Frauen aus Hartz-IV-Haushalten. Dass die hochqualifizierten Frauen – die in der Regel die Entscheidungen über die Behandlung ihrer Babys fällen – den Empfehlungen der »Stiko« kritischer gegenüberstehen, zeugt von ihrer geistigen Unabhängigkeit und ihrer Sorge um das Kind, nicht von ihrer Dummheit.

Da die »Aufklärung« offenbar nicht die gewünschten Erfolge hat, plädieren daher die Befürworter flächendeckender Impfungen gegen Masern für Zwangsimpfungen und drohen Kindern, die nicht geimpft sind, mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung. Das ist die Dialektik der Aufklärung: wenn sie nicht zum gewünschten Verhalten oder den erwarteten Einsichten führt, müssen die gegen sie Resistenten eben zur Einsicht gezwungen werden.