Inklusion braucht keine exkludierenden Zuschreibungen

Henning Köhler

Liebe Frau Cordes-Schmidt,

wie Sie vielleicht wissen, habe ich schon des Öfteren über die Krux mit der Umsetzung der CRPD (Convention on the Rights of Persons with Disabilities/ Behindertenrechtskonvention) im schulischen Bereich geschrieben und durchaus keine TV-Talkshows zitiert, in denen ich mich schon gar nicht »verliere«.

Gern würde ich Ihren Optimismus teilen, allein, es gelingt mir nach Lage der Dinge nicht. Meine Eindrücke als Begleiter und Berater von Schulen und Kitas sowie als Leiter mehrerer Fortbildungen für Erzieher und Lehrer, von denen viele aus integrativen oder Inklusionseinrichtungen kommen, sind ernüchternd. Zu hospitieren bereitet mir Freude und Kummer zugleich. Freude, weil ich das bewundernswerte Engagement vieler Erzieher und Lehrer sehe. Kummer, weil sie sich großenteils durch strukturelle Defizite und bildungs- wie auch sozialpolitische Fehlentwicklungen stark belastet fühlen. Da breitet sich Frustration aus.

Was die Belesenheit in der Fachliteratur anbelangt, sollten Sie davon ausgehen, dass auch derjenige, der Ihre Meinung nicht teilt, möglicherweise gut informiert ist. Ich arbeite gerade an einem Memorandum zur Inklusion, das als Buch erscheinen wird, und bin daher gezwungen, die einschlägige Literatur zu sichten. Sie ist sehr kontrovers.

Der Inklusionsforscher Hans Wocken rechnet vor, dass der Anteil von Kindern mit einem bescheinigten sonderpädagogischen Förderbedarf in den allgemeinen Schulen aller Bundesländer sprunghaft angestiegen ist (in Bayern binnen sechs Jahren um 70 Prozent), während die »Separationsquoten« nur minimal zurückgegangen sind (weniger als ein Prozent). Unter »Separationsquote« versteht man den Anteil der Schüler an Sonderschulen. Mit anderen Worten: Immer mehr Schülerinnen und Schüler, die bislang nicht als behindert galten, sondern als »normalverschieden«, mutieren im Zeichen der Inklusion zu ausweislich Behinderten. Sie werden diagnostisch etikettiert (»krankgeschrieben« … inwiefern soll das eine bedenkliche Wortwahl sein?), und der Lohn für die Etikettierung sind zusätzliche Ressourcen. Genau das beklage ich. Es ist ein Irrweg. Inklusion wird zum willkommenen Vorwand, immer mehr Kinder in Behindertenschubladen zu stecken.

Die CRPD hingegen problematisiert den Behindertenbegriff als solchen: seine Konventionsgebundenheit, Relationalität und Relativität. Wocken moniert, die Unbestimmtheit der gängigen sonderpädagogischen Kategorien für differenten Förderbedarf sei inakzeptabel. »Der Glaube an eine kategorial valide Diagnostik setzt auf das falsche Pferd.« Und er fügt hinzu, die unversehens pathologisierten Kinder lebten damit »durchaus gefährlich«. Denken wir an das Ausufern von Diagnosen wie ADHS, Autismus-Spektrum-Störung oder narzisstische Persönlichkeitsstörung. Zudem wird landauf, landab beklagt, dass der politische Trend dahin gehe, schulische Inklusion als sozialpolitisches Sparmodell auszugestalten. Im Rahmen unserer Kölner Inklusionsfortbildung wirken als Gastdozenten der Jurist Reinald Eichholz und der Heilpädagoge Maximilian Buchka von der Alanus-Hochschule mit. Beide sind sehr besorgt über die Entwicklung. In einer Stellungnahme der Hamburger Lehrerkammer von 2012 heißt es: »Die von der Politik angestrebte (…) Form der Inklusion ist ein Sparmodell.«

Das bemängelten jüngst auch die GEW und der Caritas-Verband. Noch leeren sich die Sonderschulen nicht dramatisch, aber wir müssen befürchten, dass geplant ist, sie nach und nach verschwinden zu lassen und Kinder mit tatsächlich schwerwiegendem Unterstützungsbedarf auf allgemeine Schulen zu verteilen, ohne dafür die nötigen Voraus­setzungen zu schaffen: personell, finanziell, infrastrukturell und hinsichtlich der notwendigen Qualifikationen. »Die Gesamttendenz entspricht dem Hauptinteresse einer neoliberalen Politik an der Absenkung staatlicher Bildungsausgaben« (Clemens Knobloch). Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, aber wir müssen uns auf einiges gefasst machen. Die Umsetzung der CRPD ist eng mit den großen gesellschaftlichen Weichenstellungen verknüpft. Und diese geben wenig Anlass zum Optimismus.

Am meisten wundert mich Ihr Vergleich meiner Befürchtungen mit Stimmen, die vor 100 Jahren unkten, Ko-Edukation werde das Schulsystem ruinieren. Jene Stimmen wandten sich gegen Ko-Edukation, während ich mich seit langem vehement für Inklusion einsetze, ja sogar beanspruchen darf, einer der ersten Waldorfmenschen gewesen zu sein, die das Thema immer wieder öffentlich anpackten, vor 2006 unter dem von mir bevorzugten Begriff »Differentielle Integration«.

Damit ist gemeint, dass bislang segregierte (ausgesonderte) Kinder einbezogen werden sollen, aber nicht mit der Absicht, sie an eine Norm anzupassen oder in Kategorien von Normabweichung einzuordnen, die ihrerseits genormt sind (sog. Zieldifferenz), sondern gemäß der Devise: »Jedes Kind setzt seine eigene Norm.« Natürlich ist der Weg noch weit. Ich fürchte nur, wir sind (kollektiv) in die falsche Richtung unterwegs. Beispiele gelingender Inklusion gibt es Gottseidank trotzdem, und ich danke von Herzen all den Kolleginnen und Kollegen, auch Ihnen, Frau Cordes-Schmidt, die durch ihren persönlichen Einsatz dazu beitragen. Bleiben Sie guter Dinge! Aber mit kritischer Wachsamkeit.

Zum Leserbrief von Cordes-Schmidt